Dass ich mich das letzte Mal einer Verfolgung zu Pferde hatte erwehren müssen, war beinahe hundert Jahre her. (Während des Bürgerkriegs, nahe Melitopol in der Ukraine.) Doch als ich jetzt die schweren Hufe hinter mir trappeln hörte, fiel mir gleich alles wieder ein. Die Erinnerungen waren ungut und sehr lebendig – für einen Moment kam es mir gar so vor, als hätte ich das ganze zwanzigste Jahrhundert vor Hitze und aus Mangel an Sauerstoff nur geträumt und floh in Wirklichkeit immer noch, mit letzter Kraft, vor den besoffenen Budjonnyreitern, denen es gefiel, mich die staubige Straße lang zu Tode zu hetzen. Ein grausiges Gefühl.
Das Entsetzen verlieh mir Flügel. Außerdem sorgte die Angst dafür, dass die supraphysische Transformation viel weiter gedieh als sonst, wenn die Jagd in normalen Bahnen verlief. Zuerst schien mir das von Vorteil, da ich nun noch schneller flitzte. Dann aber begriff ich, dass dies auch mein Verderben sein konnte. Die Hand, die das Huhn gegen die Brust gedrückt hielt, wurde immer mehr zur normalen Fuchspfote, ungeeignet, etwas zu halten. Und ich konnte nichts dagegen tun. Es war wie ein unaufhaltsames Kullern gegen den Abgrund: noch ein paar Augenblicke der Agonie, und ich ließ das Huhn fahren. Es schlug in der Luft mehrere Purzelbäume und landete mit empörtem Gackern am Wegrand. Nun war ich eine stinknormale Füchsin geworden – und lief Gefahr, auch diese Existenz sehr schnell zu verlieren.
Da aber bemerkte ich etwas sehr Sonderbares.
Ich registrierte plötzlich, dass mein Schweif, von dem man hätte annehmen dürfen, dass er gerade nichts zu tun hatte, beschäftigt war. Wenn ich dies so sage, weiß ein Werfuchs sofort, was gemeint ist; es dem Menschen zu erläutern fällt schwer. Alexander erzählte mit Vorliebe einen Witz über einen Libertin mit so langem Penis, dass dieser seine eigenen Wege ging, bis in die Nachtbars hinein: »Oh, ich glaube, er hat schon wieder eine …« Lässt man alle erotischen Konnotationen beiseite, wäre die Empfindung nicht so weit von dem entfernt.
Und mehr noch: Ich begriff, dass dies offenbar ein ständiger Zustand war. Der verdeckte Strom hypnotischer Energie, den ich in meine Umwelt abstrahlte, war so stabil, dass ich ihn gar nicht mehr wahrnahm: wie man sich an das Brummen eines Kühlschranks gewöhnen kann, man hört es erst, wenn er sich plötzlich abschaltet. Ich verfolgte diesen Strahl, um zu sehen, auf wen die Aktion abzielte – und merkte auf einmal … Ich selbst war der Adressat!
Es machte BANG!, um in der Comicsprache zu reden.
Ich verlor in diesem Moment nicht die Geistesgegenwart. Nach wie vor registrierte ich klar, was vorging, in meinem Kopf ebenso wie um mich her. Eine meiner inneren Stimmen zitierte in donnerndem Bass die Worte Laertes' an Hamlet nach dem verhängnisvollen Rapierstoß: »In dir ist keine halbe Stunde Leben!« – »Wieso halbe Stunde?«, erkundigte sich die zweite. »Was war denn für ein Gift dran an dem Rapier?« – »Das hätte man Shitman, den Shakespeareologen, fragen können, wie schade, dass er nicht mehr unter uns ist …«, warf die dritte ein. »Bald wirst du ihn fragen können, paß mal auf!«, blaffte eine vierte.
Mir wurde angst und bange: Unter den Werfüchsen existiert der Glaube, dass man kurz vor dem Tod der Wahrheit ins Auge sieht, und alle inneren Stimmen beginnen durcheinanderzureden. War es so weit? Passt mir gerade überhaupt, dachte ich … Und ich hatte keine dreißig Minuten, so wie Hamlet. Dreißig Sekunden im Höchstfall, und die liefen ab wie nix.
Der Waldrand war erreicht. Hier ergingen sich wie üblich die Mütter der umliegenden Häuser mit ihren Kinderwagen. Ich wurde entdeckt; Gekreisch, Rufe. Mit letzter Kraft fegte ich zwischen den Spaziergängerinnen hindurch, sah vor mir einen anderen Schlängelweg, der in den Wald zurückführte, bog dort ein.
Doch mein Körper ließ mich mehr und mehr im Stich. Mir taten die Hände vom Laufen weh, ich richtete mich auf und lief auf den Hinterpfoten weiter, die schon keine Pfoten mehr waren, sondern ganz normale Mädchenfüße. Bis ich auf irgendeinen besonders stachligen Kienzapfen trat und quiekend auf die Knie fiel.
Die Polizisten kamen herangeritten, saßen ab. Einer von ihnen packte mich bei den Haaren und drehte mein Gesicht zu sich herum, seines verzerrte sich vor Wut. Ich erkannte ihn: einer von den Spintrien aus dem Revier, wo ich neulich den Subbotnik abgeleistet hatte. Auch er hatte mich erkannt. Einen Moment lang schauten wir einander in die Augen. Es ist müßig, einem Uneingeweihten erzählen zu wollen, was in solch einem Moment zwischen Werfuchs und Mensch abläuft. Man muss es erlebt haben.
Was bin ich blöd, dachte ich schicksalsergeben. Dabei gibt es das alte Sprichwort: Wo du wohnst, da gib dich brav und bieder, wo du f…, da lass dich niemals nieder! Das hatte ich nun davon.
»Na? So sieht man sich wieder, du Aas!«
»Kennst du sie etwa?«, fragte der andere.
»Und ob. Die hat bei uns einen Subbotnik gemacht. Seitdem hab ich Herpes am Arsch, nicht loszukriegen!«
Hiermit demonstrierte der Polizist ein selbst für seine Verhältnisse schwach ausgeprägtes Verständnis für kausale Zusammenhänge; zum Lachen fand ich das trotzdem nicht. Gleich krieg ich Dresche!, dachte ich. Alles genau wie damals vor Melitopol … Vielleicht befand ich mich tatsächlich noch dort, und die Zwischenzeit war nur ein Traum gewesen?
Plötzlich krachte in nächster Nähe ohrenbetäubend ein Schuss. Ich hob den Blick.
Auf dem Weg stand Alexander in seinem tadellos gebügelten grauen Uniformrock, mit einer rauchenden Pistole in der Hand und einem schwarzen Bündel unterm Arm. Ich hatte nicht bemerkt, wann und wie er aufgetaucht war.
»Her zu mir, alle beide!«, befahl er.
Die Polizisten tappten gehorsam zu ihm hin – sie benahmen sich wie die Kaninchen vor der Schlange. Eines der Pferde schnaubte nervös und ging auf die Hinterbeine.
»Brav, brav, hab keine Angst«, flüsterte ich. »Der beißt schon nicht.«
Dies zu behaupten war übrigens vorschnelclass="underline" Ich war in Alexanders Pläne nicht eingeweiht. Als die Polizisten vor ihm standen, schob er die Pistole ins Holster zurück und sagte etwas mit leiser Stimme, das nach »Meldung machen« klang. Er hörte sie an, sagte dann selbst wieder etwas. Ich verstand nicht, was, doch die Gesten dazu waren vielsagend: Erst hielt er die rechte Handfläche nach oben und tat, als würfe er einen kleinen Gegenstand ein paarmal in die Höhe. Dann drehte er die Hand um und machte ein paar kreisförmige Bewegungen, so als striche er etwas fest. Auf die Polizisten hatte das eine geradezu magische Wirkung: Sie machten auf dem Absatz kehrt und trollten sich, vergaßen nicht nur mich, sondern auch ihre Pferde.
Neugierig musterte Alexander mich ein Weilchen, bevor er herüberkam und mir das schwarze Bündel vor die Nase hielt. Es war mein Kleid. Etwas war darin eingewickelt, ich rollte es auf. Das Huhn. Verendet. Trauer befiel mich, mir kamen die Tränen. Das hatte nichts mit Sentimentalität zu tun. Dieses Huhn und ich, wir waren eben noch eins gewesen. Den kleinen Tod starb ich zur Hälfte mit.
»Zieh dich an«, sagte Alexander.
»Wozu hast du …?« Ich deutete auf das Huhn.
»Ja, wie denn? Hätte ich es laufen lassen sollen?«
Ich nickte. Er hob ratlos die Hände.
»Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr.«
Woher auch! Man durfte ihm keine Vorwürfe machen.
»Nein, nein, entschuldige. Vielen Dank«, sagte ich. »Für das Kleid und überhaupt.«
»Du, hör mal«, sagte er. »Mach das hier lieber nicht mehr. Am besten nie wieder.«