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»Wieso?«

»Nimms mir nicht übel, aber … du siehst nicht besonders gut aus dabei. Ich meine, wenn du … Ich weiß nicht. Ich denke, das ist nicht dein Ding.«

»Was soll das heißen, ich sehe nicht besonders gut aus?«

»Na ja. Irgendwie kahl. Wenn man dich so sieht, denkt man, du wärest dreihundert Jahre alt, mindestens.«

Ich spürte, wie ich errötete.

»Aha. Verstehe«, parierte ich. »Das ist die Masche: bloß kein Frau am Steuer, wie? Jedes zweite Wort von dir strotzt vor Chauvinismus, du verdammter Macho, du!«

»Komm mir doch jetzt nicht damit. Es ist die reine Wahrheit. Hat nichts mit Männlein und Weiblein zu tun.«

Ich zog mich rasch an. Bekam es irgendwie sogar hin, den zerschnittenen Träger über der Schulter wieder zusammenzuknoten.

»Willst du das Huhn mitnehmen?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann mal los. Das Auto fährt gerade vor. Und morgen Punkt zwölf halte dich bereit für einen Ausflug. In den Norden.«

»Wozu?«

»Du hast mir gezeigt, wie du jagst. Morgen wirst du sehen, wie ich jage.«

Nie zuvor war ich mit einem Flugzeug geflogen, wie dieser Gulfstream Jet eines war. Nicht mal zu Gesicht bekommen hatte ich so etwas; auf Sonderflughäfen, wie der Upper rat sie benutzt, hatte es mich bisher nicht verschlagen. Und ich konnte kaum fassen, wie wenig Leute in der Maschine saßen – so als hinge die Flugsicherheit von der Anzahl der Passagiere ab.

Vielleicht ist das übrigens gar nicht so falsch. Jeder hat doch seinen Schutzengel dabei, und wenn sich in einem Airbus oder einer Boeing mehrere Hundert Leute drängen, dann dürften die unsichtbaren Schwärme geflügelter Leibwächter wenn schon nicht den Auftrieb der Tragflächen erhöhen, so doch einen Absturz zu verhindern wissen. Und dass viel häufiger kleine Chartermaschinen vom Absturz betroffen sind, mag umgekehrt auch daran liegen, dass in ihnen Newsmaker mit der Last des Bösen im Gepäck um den Planeten jetten.

Der Fluggastraum ähnelte einem mit weichen Ledersitzmöbeln ausgestatteten Raucherzimmer. Alexander saß neben mir. Außer uns gab es nur noch einen einzigen Fluggast im Abteil, und das war Michalytsch, der, im entferntesten Sessel sitzend, in irgendwelchen Papieren blätterte. Mit Alexander wechselte er kaum ein Wort – einmal nur hatte er eine Frage.

»Genosse Generalleutnant, hier in der Liste steht: Shaikh ul Mashaikh … Wissen Sie, was damit ist?«

Alexander dachte nach.

»Wenn ich nicht irre, fängt das bei vierzig Kilo Plastit an. Aber prüf es sicherheitshalber nach, wenn wir zurück sind.«

»Zu Befehl.«

Wir ließen Moskau hinter und unter uns, bald waren die Wolken dazwischen. Alexander wandte sich vom Fenster ab und holte ein Buch hervor.

»Was liest du?«, fragte ich. »Wieder einen Krimi?«

»Nein. Diesmal hab ich ein seriöses und gescheites Buch mitgenommen – wie du mir geraten hast. Möchtest du auch was zum Blättern haben?«

»Ja.«

»Dann schau mal in das hier rein. Damit du besser verstehst, was du nachher zu sehen bekommst. Es geht nicht exakt um unsere Angelegenheit, aber etwas sehr Ähnliches. Ich hab es extra für dich eingesteckt.«

Er legte mir ein abgegriffenes Buch auf die Knie, der Titel in roten Lettern: Russische Märchen. Ich hatte es neulich auf seinem Schreibtisch liegen sehen.

»Da liegt ein Lesezeichen drin«, sagte er.

Das Zeichen lag bei einem Märchen mit dem Titel Die kleine Chawroschetschka. Ich hatte schon viele Jahre kein Kinderbuch mehr in Händen gehabt, und mir fiel sogleich eine Merkwürdigkeit ins Auge: Der großen Schrift wegen nahm man die Wörter ganz anders zur Kenntnis als in Erwachsenenbüchern. Als wäre das, was sie besagten, von vornherein einfacher und klarer.

Das Märchen war eins von der traurigen Art. Die kleine Chawroschetschka war ein nördlicher Aschenputtel-Klon – nur dass sie sich statt von einer guten Fee von einer buntscheckigen Kuh helfen ließ. Jeden noch so schwierigen Auftrag, den die böse Stiefmutter der Kleinen auftrug, erledigte die Kuh für sie zur Zufriedenheit. Die gehässigen Schwestern bekamen heraus, auf welche Weise Chawroschetschka mit der Arbeit fertig wurde, und hintertrugen es der Stiefmutter. Die befahl daraufhin, die bunte Kuh zur Schlachtbank zu führen. Als Chawroschetschka davon hörte, erzählte sie es der Kuh. Die Kuh bat das Mädchen, nicht von ihrem Fleisch zu essen und ihre Knochen im Garten zu vergraben. Aus den Knochen wuchs dann ein Apfelbaum mit leise klingelnden goldenen Blättern, der Chawroschetschkas Schicksal zum Guten wendete: Sie schaffte es, einen Apfel zu pflücken, wofür sie mit einem Bräutigam belohnt wurde … Es fiel auf, dass am Ende weder die Stiefmutter noch die Schwestern bestraft wurden: Sie konnten keinen Apfel greifen, und so vergaß man sie einfach.

Das Märchen im anal-amphetaminfixierten Diskursrahmen zu analysieren oder in seiner »Morphologie« herumzustochern verspürte ich nicht die geringste Lust. Sowieso musste ich nicht lange herumrätseln, worum es in ihm wirklich ging – mein Herz sagte es mir. Es war die unendliche russische Geschichte, deren letzte Folge ich erst kürzlich, am Ende des vorigen Jahrhunderts, miterlebt hatte. Mir war, als kannte ich diese bunte Kuh persönlich, bei der sich die Kinder über ihren Kummer beklagen und die für sie Wunder der unkomplizierten Art organisiert und dann still unters Messer geht, um als Zauberbaum wieder aus der Erde zu wachsen – jedem Jungen und jedem Mädchen einen goldenen Apfel! …

In dem Märchen steckte die unbegreifliche Wahrheit über eine äußerst betrübliche und mysteriöse Seite des russischen Lebens. Wie viele Male war diese selbstlose Kuh schon geschlachtet worden. Und wie oft war sie zurückgekehrt – mal als Zauberapfelbaum und mal als ganzer Kirschgarten. Aber wo waren die Äpfel geblieben? Nicht aufzufinden. Sollte man bei der United Fruit Company anrufen? … Lieber nicht. United Fruit, das war voriges Jahrhundert. Inzwischen irrt jeder derartige Anruf hilflos durch die Kabel, landet erst bei irgendeiner Company auf Gibraltar, die aber nun wieder einer Firma auf den Falkland-Inseln gehört, die von einem Amsterdamer Anwalt verwaltet wird, der die Interessen eines Trusts vertritt, hinter dem ein nicht näher genannt sein wollender Schecknehmer steht. Den nun freilich kennt auf der Rubljowskoje in Moskaus Speckgürtel jeder Hund.

Ich klappte das Buch zu, sah nach Alexander. Er schlief. Behutsam nahm ich ihm das »seriöse und gescheite Buch« vom Schoß, schlug es auf.

Ein Geldbaum sieht anders aus, als die leichtsinnigen Belletristen im vorigen Jahrhundert es sich ausmalten. In keinem Wunderland steht er und trägt dort goldene Dukaten, nein, er wächst als sprudelnde Erdölfontäne durch die Eiskruste des Permafrostbodens, ein brennender Dornbusch wie jener, der einst zu Moses sprach. Doch wiewohl Mosesse in genügender Zahl sich heute um den Geldbaum scharen, hüllt Gott sich in beredtes Schweigen … Wahrscheinlich schweigt er, weil er weiß: Lange wird der Baum nicht mehr so lustig lodern. Umsichtige Menschen werden kommen, einen Feuerlöscher auf die brennende Krone richten und den Baum zwingen, mit seinem schwarzen Stamm in ein kaltes Stahlrohr hineinzuwachsen, das sich durch ganz Deppenland zieht bis zu den Containerhäfen aller Chinesen und Japaner dieser Welt – so weit, dass der Baum bald nichts mehr von seinen Wurzeln wissen wird …

Ich las noch ein paar dergleichen bemüht schleierhafte Absätze weiter und spürte, wie der Schlaf mich übermannte. Klappte das Buch zu, legte es zurück auf Alexanders Knie. Den Rest des Fluges verschlief ich.

Nicht einmal die Landung bekam ich mit. Als ich die Augen öffnete, schwamm am Bullauge der über die Rollbahn manövrierenden Gulfstream-Maschine ein verschneites Flughafengebäude vorbei, das eher an eine Bahnstation erinnerte. An seiner Fassade war ein Transparent aufgespannt: Herzlich willkommen in Petrodestillewsk!