So weit das Auge reichte, nichts als Schnee.
An der Gangway wurden wir von ein paar Militärs in Empfang genommen, die Winteruniformen ohne Rangabzeichen trugen. Michalytsch und Alexander wurden wie alte Bekannte begrüßt, während mich eher schräge und, wie mir schien, verwunderte Blicke trafen. Doch immerhin: Als Michalytsch und Alexander ihre Offiziersmäntel erhielten, wurde auch ich mit warmer Kleidung bedacht, einer Militärwattejacke mit zartblauem Webpelzkragen und einer Pelzmütze mit Ohrenklappen. Die Jacke war so groß, dass ich buchstäblich darin versank.
Drei Fahrzeuge standen für uns bereit: schwarze Geländewagen, die einen durchaus Moskauer Eindruck machten, nur dass hier Uniformierte am Steuer saßen. Der Empfang verlief wortkarg, mit ein paar Begrüßungsfloskeln und kurzen Kommentaren zum Wetter hatte es sich. Vermutlich war bekannt, zu welchem Zweck die Moskauer Gäste angereist waren.
Die Stadt, die gleich hinter dem Flugplatz anfing, wirkte bizarr. Die Häuser erinnerten an die Mittelklasse-Eigenheime im Moskauer Umland – mit dem Unterschied, dass sie, irgendwie albern, auf etwas wie Hühnerbeinen standen. Die in den Permaboden gerammten Pfähle im Zusammenspiel mit den roten Hahnenkämmen ihrer Ziegeldächer riefen die Assoziation hervor, derer ich mich nicht erwehren konnte: Die Häuser wurden zu reihenweise angetretenen, allerdings vierbeinigen Hühnern, die ihre Filetteile samt schwarzem Türbürzel in die Höhe streckten. Wahrscheinlich hatte ich die Jagderlebnisse von gestern und den dabei erlittenen Schock noch immer nicht verdaut.
Zwischen den eurogenormten Hüttchen verkauften Händler ihre Ware von Zeltbahnen, die neben einem Motorschlitten der Marke Buran auf dem Schnee ausgebreitet waren.
»Womit handeln die?«, fragte ich Alexander.
»Rentierfleisch. Frisch aus der Tundra.«
»Werden denn sonst keine Lebensmittel geliefert?«
»Doch, doch, natürlich. Rentierfleisch ist einfach in Mode. Macht was her. Und ist ökologisch unbedenklich.«
Schwer beeindruckt war ich von einer gleichfalls auf Pfählen stehenden Calvin-Klein-Boutique – genauer gesagt, von ihrer Präsenz in diesen Breiten. Gewiss der nördlichste Vorposten des sekundären Calvinismus auf der ganzen Welt.
Auffällig auch der große Kinderspielplatz, vollgestellt mit Gerüsten wie von Nomadenzelten, an denen dicke, warm eingepackte Kinder wie Faultiere hingen. Das Ganze ließ an einen im ewigen Schnee konservierten Lagerplatz vorsintflutlicher Jäger denken. Davor stand ein rustikaler Torbogen, bemalt mit Schneeflöckchen, rotnasigen Clowns und allerlei Getier sowie der lustigen Inschrift KUKIS-JUKIS-JUXI-PUX! Was das bedeuten sollte, war schwer zu entscheiden. Es konnte sich
1. um einen Abzählreim, der die Kinder bei Laune halten sollte,
2. um die Liste der Sponsoren oder
3. um einen in äsopischer Sprache (so weit sind wir schon wieder) formulierten Protest gegen die Willkür der Machthabenden handeln.
Die im russischen Leben eingetretenen Verwerfungen ließen ein klares Dafürhalten für eine der Möglichkeiten kaum noch zu. Und sowieso war keine Zeit: Wir fuhren zügig durch, sodass sich die ganze Nordlandfolklore schnell wieder im pulvrigen Weiß aufgelöst hatte. Bald war alles nur noch ein einziges, in der Abendsonne glitzerndes Schneefeld.
»Schieb mal mein Lieblingslied rein«, sagte Alexander zum Chauffeur.
Er wirkte mürrisch und konzentriert, ich traute mich nicht, ihn anzusprechen.
Ein alter Hit der Shocking Blue ertönte:
I'll follow the sun
That's what I'm gonna do
Trying to forget all about you …
Ich konnte nicht umhin, dieses Trying to forget all about you auf mich zu beziehen, so etwas macht die weibliche Psyche automatisch, ohne mit der Chefetage Rücksprache zu halten. Trotzdem, der Schwur, der Sonne zu folgen, in der Art der alten Wikinger ein zweites Mal bekräftigt, kam mir schön und erhaben vor.
I'll follow the sun
Till the end of time
No more pain and no more tears for me.
An der Stelle allerdings, wo es um das Ende aller Zeiten ging, fiel mir ein, was unter dem Wolfsbild in Alexanders Mappe gestanden hatte: FENRIS, Sohn des Loki, Riesenwolf, der die Sonne über den Himmel jagt. Holt Fenris sie ein und frisst sie, ist Ragnarök. Das ergab nun freilich ein etwas anderes Bild … Aber nein, was für ein Kindskopf er doch ist!, dachte ich mit einer mir selbst noch uneingestandenen Zärtlichkeit – was für ein komischer großer Junge!
Bald brach die Dunkelheit herein. Im Mondlicht erschien die Landschaft da draußen wie nicht von dieser Welt – man fragte sich, wozu die Menschheit zu anderen Planeten flog, wenn hier, vor ihrer Nase, solche Orte existierten. Gut möglich, dass nur ein Meter seitwärts der unsichtbaren Straße niemals je ein menschlicher Fuß, vielleicht auch keines anderen Wesens Fuß oder Tatze den Boden berührt hatte, wir wären die Ersten gewesen …
Als wir am Ziel der Reise ankamen, war es vollkommen finster. Kein Gebäude zu sehen, kein Licht, kein Mensch und nichts sonst – nur Nacht, Schnee, Mond und Sterne. Der einzige Fehler in der Monotonie der Landschaft war ein unweit gelegener Hügel.
»Wir sind da«, sagte Alexander.
Draußen war es kalt. Ich schlug den Jackenkragen hoch, zog die Mütze tiefer über die Ohren. Für ein Leben in diesen Breiten hatte die Natur mich nicht vorgesehen. Was hätte ich hier auch anfangen sollen? Rentierzüchter suchen keine Liebesabenteuer im ewigen Schnee – und wenn doch, bekäme ich meinen Schweif bei der Kälte wohl kaum ordentlich aufgeschüttelt. Er fröre augenblicklich ein und bräche wie ein Eiszapfen.
Die Autos waren so geparkt, dass ihre kräftigen Scheinwerfer den Hügel komplett ausleuchteten. Im Lichtfeld eilten Leute geschäftig hin und her, packten eine mitgebrachte Ausrüstung aus – irgendwelche Gerätschaften, für mich undurchschaubar. Ein Mann in ebensolcher Wattejacke, wie ich sie trug, mit einem länglichen Koffer in der Hand, trat auf Alexander zu.
»Kann ich aufbauen?«, fragte er.
Alexander nickte.
»Ich komme mit«, sagte er, und zu mir gewandt: »Willst du nicht auch? Du wirst sehen, der Ausblick von da oben ist hübsch.«
Wir liefen bis zur Kuppe des Hügels.
»Wann ist der Druck abgefallen?«, wollte Alexander wissen.
»Gestern Abend«, antwortete der Offizier.
»Habt ihr probiert, Wasser einzupumpen?«
Der Offizier winkte ab, als lohnte es nicht, ein Wort darüber zu verlieren.
»Der wievielte Abfall ist es an dieser Sonde?«
»Der fünfte«, sagte der Offizier. »Aus der Traum. Die Schicht ist leer gezapft. Wie Russland im Ganzen.«
Er schloss einen gedämpften Fluch an.
»Das werden wir sehen, ob im Ganzen oder nicht im Ganzen«, sagte Alexander. »Und hüte deine Zunge in Gegenwart einer Dame.«
»Die nachwachsende Generation?«, fragte der Offizier.
»Könnte man sagen.«
»Bravo! Auf Michalytsch kann man nicht mehr groß rechnen …«
Wir waren oben angelangt. Ich sah flache Gebäude in der Ferne, scharfe blaue und gelbe Lichtpunkte, gitterartige Metallkonstruktionen, hie und da Dampf- oder Rauchschwaden darüber. Der Mond beschien ein Labyrinth aus knapp über der Erde verlaufenden Rohren. Manche davon tauchten irgendwo im Schnee ab, andere reichten bis zum Horizont. Doch war dies alles viel zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen. Menschen konnte ich nirgends entdecken.
»Steht die Funkverbindung?«, fragte Alexander.
»Jawohl«, erwiderte der Offizier, »wenn sich was tut, melden sie sich. Wie stehen die Chancen?«