Выбрать главу

»Weißt du, was ich für ein Gefühl hatte? Mir war, als hättest du mich dem Schädel als Chawroschetschka präsentiert. Kann das sein?«

Er lächelte.

»Warum auch nicht. Du bist so herzergreifend.«

»Aber sieh mich doch mal richtig an. Was bin ich für eine Chawroschetschka?«

»Und wenn du Maria Magdalena wärest!«, erwiderte er. »Was tut das zur Sache? Ich bin Pragmatiker. Mein Job ist es, Erdöl zu zapfen. Und dafür muss ich den Schädel zum Weinen bringen. Was soll man machen, wenn er bei Michalytsch nicht mehr weinen will? Nicht mal, wenn der Kollege sich fünf Kubik Ketamin drückt?«

»Aber … Es war doch geschwindelt«, sagte ich konsterniert.

Er räusperte sich.

»Na und? Findest du, dass die Kunst immer die Wahrheit sagen muss?«

Statt einer Antwort zwinkerte ich ein paarmal. Das Komische war, dass ich tatsächlich so dachte. Und plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, wer von uns beiden der zynischere Manipulator fremden Bewusstseins war.

»Das kannst du meinetwegen der Saatchi Gallery als Kunstkonzept verkaufen«, meinte er. »Vielleicht stellen sie es aus neben ihrem marinierten Haifisch. Oder Brian kauft es dir ab. Der mit seinen Tausend-Pfund-Offerten.«

Brian konnte leider gar nichts mehr kaufen … Diese geläufige Art, über einen Toten zu reden, hat sich inzwischen übrigens weitgehend überholt. Es kommt vor, dass ein Kunde stirbt, und seine Broker an der Börse sind weiter fleißig am Zappeln. Und hat die betrübliche Nachricht sie endlich erreicht, spekuliert ein von allen vergessnes Programm noch lange im Cyberspace herum, kauft und verkauft bei Erreichen der Schwellenwerte fröhlich weiter seine Pfunds und Yens … Bei mir gab es für Brian aber wohl tatsächlich nichts mehr zu kaufen. Am allerwenigsten den Gedanken, dass Kunst die Wahrheit sagen muss.

Moskau hatte mich mit der traurigen Neuigkeit empfangen. Die Notiz auf der Site nachrichten.ru, deren Adresse sich auf mystische Weise schon wieder ins Startmenü eingeschrieben hatte, war so übertitelt:

ENGLISCHER ARISTOKRAT IN DER CHRISTUS-ERLÖSER-KATHEDRALE TOT AUFGEFUNDEN!

Ein Gefühl, das sich wie Übelkeit ausnahm, verhinderte, dass ich die Notiz von Anfang bis Ende durchlas – sie diagonal zu überfliegen genügte, um den journalistischen Gemeinplätzen (gefrorene Grimasse unsäglichen Entsetzens, untröstliche Witwe tränenüberströmt, Vertreter der Botschaft, Aufklärung der näheren Umstände) ein paar Fakten abzuringen. Um I Huli machte ich mir keine Gedanken, der Vorgang war für sie reine Routine. Sorgen musste man sich um die Aufklärer der näheren Umstände: dass diese Grimasse unsäglichen Entsetzens nicht auch auf dem Gesicht eines von ihnen festfror.

Lord Cricket hingegen hatte Mitgefühl verdient. Ich gab mir auch alle Mühe, es gelang mir jedoch nicht, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren, stattdessen liefen dokumentarische Fuchsjagdbilder vor meinem inneren Auge ab: ein über das Feld flitzendes kleines rotes Knäuel, schutzlos, verzweifelt und doch voller Hoffnung, dazu die berittene Schar der Verfolger in eleganten Capes … Ein Totenmantra sprach ich trotzdem für ihn.

Dann wurde meine Aufmerksamkeit von einer Kolumnenschlagzeile angezogen:

KRANKER RÄUBER SUCHT ZUFLUCHT IM BITZA-PARK

Ein Absatz in diesem Pamphlet war besonders unverschämt:

Der Fuchs, von vielen kahlen Stellen gezeichnet (besser gesagt: an einigen Stellen war noch Fell vorhanden), erregte bei Augenzeugen heftiges Mitleid und nährte darüber hinaus den Verdacht, es könnte in der Nähe eine radioaktive Müllkippe geben. Vielleicht suchte das kranke alte Tier die Nähe des Menschen in der Hoffnung auf einen Coup de Grâce, der seinen Leiden ein Ende gesetzt hätte. Doch von den hartherzig gewordenen Moskauern ist selbst solch ein Service unentgeltlich nicht mehr zu haben. Welchen Ausgang die Jagd nahm, die zwei berittene Polizisten auf das arme kranke Tier machten, ist nicht bekannt.

Was für ein elender Lügner! Und dabei kann sich jeder denken, dass kein Augenzeuge von einer radioaktiven Müllkippe geredet hat. Alles aus den Fingern gesogen, um irgendwie diese Kolumne zu füllen … Online-Kolumnisten schreiben, nebenbei gesagt, über alle Themen gleichermaßen abgefuckt: Politik, Kultur, sogar Marsforschung, ganz egal. Nun also Füchse. Dieser Typ hier auf nachrichten.ru hatte noch dazu seinen ganz persönlichen Flitz: Immer wenn er jemanden richtig fertig machen wollte, kam bei ihm »heftiges Mitleid« vor. Das frappierte mich jedes Maclass="underline" wie man das hehrste aller menschenmöglichen Gefühle, das Mitgefühl, in solch einen Giftstachel verwandeln kann … Schon wie das klang: Mitleid? Aber heftig!

Eigentlich musste man sich darüber jedoch nicht wundern. Denn was ist ein Online-Kolumnist? Eine arme Sau. Vielleicht etwas mehr als ein Lagerwachhund. Aber weit, weit weniger als ein Werfuchs.

1. Die Ähnlichkeit von Online-Kolumnist und Lagerwachhund besteht in der Fähigkeit, einen genau markierten Sektor zu verbellen.

2. Der Unterschied liegt darin, dass ein Lagerwachhund gar nicht wissen kann, wen oder was er verbellt, der Online-Kolumnist könnte es wissen.

3. Die Ähnlichkeit eines Online-Kolumnisten mit einem Werfuchs besteht darin, dass beide etwas vorzuspiegeln bemüht sind, was der Mensch ihnen als Realität abkaufen soll.

4. Der Unterschied ist, dass den Werfüchsen dieses gelingt, den Online-Kolumnisten nicht.

Letzteres erstaunt nicht. Käme denn einer, der glaubhafte Phantome herzustellen in der Lage ist, auf die Idee, als Online-Kolumnist zu arbeiten? Äußerst unwahrscheinlich. Ein Online-Kolumnist schafft es nicht einmal selber, an seine Enten zu glauben, dachte ich mit geballten Fäusten, von den anderen ganz zu schweigen. Darum muss er still in seiner Hundehütte sitzen und darf nur dann kläffen, wenn …

Moment.

Schlagartig waren Online-Kolumnisten und Lagerwachhunde in Vergessenheit geraten – wie aus dem Kopf gepustet. Denn dort war die Sonne der Erkenntnis aufgegangen.

Selbst daran glauben, ja klar, das ist es!, dachte ich. Das ist der Unterschied!

Ganz unversehens hatte ich die Lösung eines Rätsels gefunden, das mich seit geraumer Zeit quälte. Viele Tage hatte mein Geist sich ihm auf immer neuen Umwegen zu nähern versucht – erfolglos. Auf einmal ruckelte sich dort etwas zurecht, es machte klick!, und alles passte zusammen: als hätte ich versehentlich ein Kreuzworträtsel gelöst.

Ich hatte begriffen, was uns Werfüchse von den Werwölfen unterscheidet. Dieser Unterschied ist, wie so oft, nichts weiter als eine mutierte Gemeinsamkeit, Füchse und Wölfe sind nahe Verwandte. Beider Magie basiert auf manipulierter Wahrnehmung. Doch die Formen der Manipulation sind verschieden.

An dieser Stelle ist ein kurzer theoretischer Exkurs vonnöten, andernfalls blieben meine Ausführungen unverständlich, fürchte ich.

Die Menschen streiten des Öfteren darüber, ob diese Welt tatsächlich existiert. Oder womöglich nur so ein Matrix-Ding ist. Ein dummer Streit! Auseinandersetzungen wie diese rühren daher, dass die Leute die Wörter, die sie benutzen, nicht verstehen. Bevor man dieses Thema diskutiert, sollte man zum Beispiel bedenken, was das Wort »existieren« überhaupt bedeutet. Da käme viel Interessantes zum Vorschein. Aber Menschen sind nun mal selten zu richtigem Denken befähigt.

Womit ich nicht sagen will, dass alle Menschen komplette Idioten sind. Es gibt durchaus welche unter ihnen, deren Intellekt sich mit dem eines Werfuchses messen lässt. Nehmen wir den irischen Philosophen Berkeley. Der gesagt hat: Existieren heißt wahrgenommen werden. Dass die Dinge also lediglich in der Wahrnehmung existieren. Man muss sich nur einmal drei Minuten Zeit nehmen, das Thema in Ruhe zu durchdenken – und alle abweichenden Ansichten zu dieser Frage wandern von ganz allein in die Kiste mit Osiris-Kult und Mithra-Glauben.