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Ich bin, nebenbei gesagt, im Bilde, warum das so ist, ich könnte ein dickes gelehrtes Buch darüber schreiben. Der Kerngedanke wäre folgender: Russland ist ein Land, das auf bäuerlicher Selbstverwaltung gewachsen ist, und die Zerstörung dieser bäuerlichen Kultur führte dazu, dass mehr und mehr eine andere Form von Selbstverwaltung, nämlich die des kriminellen Milieus, die allgemeingültigen Maßstäbe der Moral lieferte. Wo früher der liebe Gott residierte, galt jetzt ein kleines Einmaleins, genauer gesagt, der liebe Gott wurde ein Teil davon: 1 Mann, 1 Wort, wie der Diskurs jenes unbekannten Meisters der Knasttätowierung lautete. Und als schließlich auch die letzte Religionsprothese, der »innere Parteisekretär« aus Sowjetzeiten, demontiert war, da lieferte die auf Ganovenlieder gestimmte Klampfe endgültig den Kammerton der russischen Seele.

So ekelhaft diese Knastmoral auch immer sein mag – eine andere ist nicht mehr vorhanden. Ich seh nur noch Melonenkarren, ich seh hier keine Menschen mehr – Lermontow scheint es exakt vorausgesehen zu haben, auch wenn er nicht wissen konnte, dass »Melonen« einmal, gut anderthalb Jahrhunderte später, ein Unterweltsausdruck für Millionen sein würde. (Dollar natürlich.) Melonen im Überfluss, nur keine ehrenwerten Leute! Nichts als KGB-Windhunde und Spintrienjournaille, spezialisiert auf liberale Wertepropaganda …

Yeah! Den letzten Satz lasse ich so stehen, möge der Leser sich daran ergötzen. Werfuchsschläue! Wir Werfüchse sind nämlich von Natur aus liberal, so wie die Seele die geborene Christin ist. – Huch! … Was schreibe ich denn da? Mein Gott. Aber man weiß ja, wo das alles herkommt. Das von der Spintrienjournaille hab ich von den KGB-Windhunden. Das von den KGB-Windhunden hab ich von der Spintrienjournaille. Nichts zu machen: Schnappt ein Werfuchs irgendeine Meinung auf, dann käut er sie automatisch in der ersten Person wieder. Wie auch sonst? Eine eigene Meinung haben wir zu diesen Fragen nicht (das fehlte noch), aber man lebt unter Leuten. Also lässt man die Bälle zurückgehen. Nein, was bin ich froh, dass ich kein Buch über Russland schreiben muss. Was wäre ich schon für ein Solschenizyn auf seiner Ranch Jasnaja Poljana? Nicht mit der Lüge leben. Life's Good © Aber ich schweife schon wieder ab.

Die tieferen Gründe für seine Homophobie hatte ich mit Alexander bislang kaum erörtert (kein Thema für ihn), doch war ich überzeugt davon, dass ihre Wurzel bis in die kriminellen Katakomben des russischen Bewusstseins hinabreichte. Bei ihm ging die Homophobie so weit, dass er alles ablehnte, was auch nur ein klein wenig schillernd war. Und er phantasierte es sonst wo hinein: Zum Beispiel war er der Meinung, Bunins Schulbuchgedicht Der Hahn auf dem Kirchenkreuz spiele auf die schwierige Situation der Schwulen in Russland unter dem Zaren an. (Gleich stellte ich mir einen Nachtklub-Chansonnier auf der Kirchturmkuppel vor, wie er mit dem Lied seinen Arsch bei besoffenen Kreuzrittern loszukaufen sucht: Er singt vom Leben und vom Tod / von Feuersnot und Gnadenbrot …)

»Was hast du eigentlich gegen Schwule?«, fragte ich.

»Sie sind gegen die Natur.«

»Aber die Natur hat sie doch geschaffen. Wie können sie dann gegen die Natur sein?«

»Das ändert nichts. Was als Keim im Sex verborgen liegt, sind die Kinder – so wie die Kerne in der Melone. Die Schwulen kämpfen für das Recht, Melone ohne Kerne essen zu dürfen.«

»Gegen wen kämpfen sie denn?«

»Gegen die Melone. Sonst ist es eh längst allen egal. Aber die Melone kann ohne Kerne nicht fortexistieren. Darum sage ich, Schwule sind gegen die Natur. Ist das nicht logisch?«

»Ich kannte mal eine Melone«, gab ich zur Antwort, »die meinte, die Fortpflanzung von Melonen hänge davon ab, ob man den Leuten weiszumachen versteht, dass es gesund wäre, die Kerne runterzuschlucken. Aber da überschätzen die Melonen ihre hypnotischen Fähigkeiten gewaltig. In Wahrheit geschieht die Fortpflanzung der Melonen in einem Prozess, von dem die Melonen keine Vorstellung haben, weil sie nämlich nie dabei sind. Denn erst wenn die Melone stirbt, fängt dieser Prozess an.«

»Du redest schon wieder so verquer, dass ich nix kapiere, Füchslein«, sagte er missmutig. »Mach es kürzer, ohne diesen ganzen schwulen Fickfack.«

Eine besondere Abneigung hegte Alexander gegen Luchino Visconti. Jeden Vorschlag, etwas von diesem Regisseur (ich halte ihn für einen der größten des zwanzigsten Jahrhunderts) in den Recorder zu schieben, fasste er als persönliche Beleidigung auf. Das Fragment eines solchen Streitgesprächs ist mir erhalten geblieben. Wenn alle übrigen Dialoge in meinen Aufzeichnungen nur Gedächtnisprotokolle sind – dieser ist absolut genau, ich habe ihn zufällig auf Diktaphon mitgeschnitten. Er soll vor allem deshalb hier stehen, weil ich noch einmal Alexanders Stimme im Ohr haben möchte – während der Abschrift kann ich mich an ihr satt hören.

AS: Tod in Venedig? Du fällst mir auf den Wecker damit, Füchslein. Hältst du mich für schwul?

AH: Dann wenigstens Gewalt und Leidenschaft.

AS: Nein. Lieber Takeshi Kitano. Zatoichi straft die Mörder-Geisha. Und lässt sich dann von ihr bestrafen.

AH: Das mag ich nicht. Dann lieber noch mal Vom Winde verweht.

AS: Ach, nö … Da ist die Treppe so lang.

AH: Was denn für eine Treppe?

AS: Die ich dich ins Schlafzimmer rauftragen muss. Und du machst sie absichtlich noch fünfmal länger. Ich war das letzte Mal völlig nassgeschwitzt. Ernsthaft! Obwohl man denken könnte, wir hätten das Sofa gar nicht verlassen.

AH: Na, manchmal werd ich schon ganz gern auf Händen getragen … Aber ich machs kurz diesmal. Die Treppe, meine ich. O.k.?

AS: Lieber was andres … Ich hätte gerne einen, wo ne Schießerei dabei ist.

AH: Na gut, dann nehmen wir Mulholland Drive. Da wird geschossen. Bitte!

AS: Jetzt fängst du damit wieder an. Nicht mit mir, wie oft soll ich dir das noch sagen? Hol dir nen Schwulen von der Straße rauf, mit dem kannst du das gucken.

AH: Was hat das damit zu tun? Das sind doch Lesben in dem Film.

AS: Ist das nicht dasselbe?

(Pause. Rascheln, Klappern. Ich hocke auf dem Fußboden und wühle in den herumliegenden Kassetten.)

AH: Da schau, hier gibt es eine Stephen-King-Verfilmung: Dreamcatcher. Schon gesehen?

AS: Nein.

AH: Dann lass uns das probieren. Da müssen wir keine Menschen sein, sondern Aliens.

AS: Was denn für Aliens?

AH: Die haben einen Mund mit Zähnen drin, der geht senkrecht den ganzen Körper runter. Und die Augen sind an den Seiten. Kannst du dir vorstellen, was das für blutige Küsse gibt? Das allein ist schon der reinste Cunnilingus. Ich vermute, dass die sich auch so fortpflanzen.

AS: Liebste! Runterzieher hab ich auf Arbeit genug. Lass uns lieber was Romantisches gucken.

AH: Was Romantisches, na schön … Was Romantisches … Hier haben wir Matrix-2. Magst du mit Keanu Reeves ficken?

AS: Nicht wirklich.

AH: Dann lass mich das machen.

AS: Abgelehnt. Matrix-3 ist nicht zufällig da?

AH: Doch.

AS: Da gäbe es eine spannende Variante mit diesen Maschinen.

AH: Welche meinst du?

AS: Na, die humanoiden Roboter, wo Menschen drinsitzen. Sie schießen sich mit diesen schwarzen Achtbeinern. Stell dir vor, so ein Roboter hat einen von den Achtbeinigen geschnappt und …

AH: Weißt du was? Manchmal kommst du mir vor wie zwölf.

AS: Dann schieb Matrix rein, und fertig. (Erneutes Rascheln. Wahrscheinlich bin ich bei den DVD-Vorräten gelandet.)