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»Das reicht mir«, sagte ich.

Das Taxi kam langsam voran, die Ampeln schalteten ewig nicht um, und an jeder Kreuzung schien es mir, als könnte mein Herz sich nur noch Sekunden gedulden, bevor es mir aus der Brust sprang.

Als ich aus dem Fahrstuhl trat, nahm er den Schleier vom Gesicht und schnüffelte.

»An deinen Duft werde ich mich nie gewöhnen. Immer denke ich, dass ich ihn kenne. Und trotzdem zeigt sich jedes Mal, dass ich ihn anders in Erinnerung habe. Ich werde dir wohl ein paar Haare aus dem Schweif zupfen müssen.«

»Und dann?«

»Na … Ich stecke sie in ein Medaillon und trage es auf der Brust«, sagte er. »Dann kann ich es immer mal hervorholen und schnuppern. Wie ein Ritter im Mittelalter.«

Ich lächelte. Seine Vorstellungen von Rittern im Mittelalter stammten offensichtlich aus Witzen. Und kamen wohl eben darum der Wahrheit recht nahe. Natürlich hatten die Ritter damals keine Schweifhaare in ihren Medaillons (woher auch?), sondern … Doch ansonsten war das Bild authentisch.

Neben dem Sofa sah ich einen Gegenstand stehen, den ich noch nicht kannte: ein mit Glühlämpchen besetzter Glaskonus auf langem, dünnem Stiel. Stehlampe in Form eines überdimensionalen Martini-Glases.

»Die ist ja toll. Wo hast du sie her?«

»Von Rentierzüchtern geschenkt bekommen«, sagte er.

»Von Rentierzüchtern!«, staunte ich.

»Naja, genauer gesagt: Rentierzüchterlobby. Witzige Jungs, aus New York. Hübsch, nicht? Wie ein Libellenauge.«

Ich bekam so wahnsinnige Lust, ihn anzuspringen, fest an mich zu drücken … Nur mit Mühe hielt ich mich zurück. Wenn ich noch einen Schritt auf ihn zumachte, so fürchtete ich, gäbe es zwischen uns einen Funkenschlag. Er schien Ähnliches zu fühlen.

»Du bist heute so sonderbar. Hast du was genommen? Gesnifft?«

»Hast wohl Angst vor mir!«, raunte ich, ihn von unten her anblickend.

»Ha!«, sagte er. »Da hab ich aber schon beängstigendere Dinge gesehen!«

Ich ging langsam um ihn herum. Er grinste und nahm im selben Bogen die Gegenrichtung, ohne den Blick von mir zu wenden, so als wären wir das Paar Fechter in dem einen Animatrix-Film, den er so gern sah und sich dabei mit seinem zottigen grauen Haken bei mir einkrallte (das war, nebenbei gesagt, ein echter »Anschluss« – anders als die Genickstöpsel im Film). Gleichzeitig blieben wir stehen. Ich trat vor ihn hin, legte ihm die Hände auf die Achselklappen, zog ihn an mich und küsste ihn zum ersten Mal, seit wir uns kannten, auf den Mund – nach Menschenart.

Ich hatte noch nie so geküsst. Ich meine: leibhaftig, unter Einsatz des Mundes. Es fühlte sich komisch an, so feucht und warm, mit einem leichten Gegeneinanderschlagen der Zähne. Meine ganze Liebe legte ich in diesen ersten Kuss hinein. Und im nächsten Augenblick setzte bei ihm die Transformation ein.

Am Anfang war alles wie sonst: Der Schweif kam aus dem Rückgrat gerutscht (besser gesagt: gefallen), streckte sich, zwischen ihm und Alexanders Kopf baute sich die unsichtbare Energiebrücke auf. Normalerweise dauerte es von da an nur noch Augenblicke, bis er Wolf war. Diesmal aber ging irgendetwas schief. Alexander zuckte wie im Krampf und kippte nach hinten um – als wäre sein Schweif mit einemmal so schwer geworden, dass er Übergewicht bekam. Arme und Beine wurden von einem heftigen Zappeln ergriffen (was furchtbar aussah, wie bei Leuten mit einem Schädeltrauma), und nun verwandelte er sich in Sekundenschnelle in einen schwarzen (nicht mal rassereinen, irgendwie verwahrlost, räudig erscheinenden) … Hund.

Jawohl. Einen Hund. Von der Größe eines Schäferhunds, doch sichtlich eine Promenadenmischung. Seine unedlen Proportionen ließen vielerlei Blut erahnen; die Augen blickten klug, mit unverstellter Wut, beinahe menschlich, so wie bei den streunenden Kötern, die an den Metroeingängen zusammen mit den Obdachlosen nächtigen. Und außerdem die Farbe: bläulich-schwarz, mit einem Stich ins Violette. Haargenau die Farbe von Aslan Udojews Bart.

Ob es an der Farbe lag oder an den aufgerichteten, wie hellhörigen spitzen Lauschern: Dieser Köter hatte etwas Teuflisches. Automatisch dachte man an über dem Galgen kreisende Krähenschwärme, irgendwelches Dämonenzeug. (Ich weiß, es klingt seltsam, wenn meinesgleichen so etwas sagt, aber es war so.) Das Gräulichste aber war – egal, ob es sich um eine Täuschung handelte oder um eine Gegebenheit – dieser von allen Seiten zugleich ans Ohr dringende dumpfe Ton: als stöhnte die Erde.

Ich kreischte vor Schreck. Er prallte ab von mir, drehte sich zum Spiegel zuckte vor dem Anblick zurück und begann zu winseln. Dies war der Moment, in dem ich die Fassung wiedergewann. In dem mir dämmerte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, eine Katastrophe, und ich war schuld. Mein Kuss hatte die Katastrophe ausgelöst, jener Stromkreis der Liebe, den ich geschlossen hatte, indem meine Lippen sich an seinen festsaugten.

Ich ging neben ihm in die Hocke, legte meinen Arm um seinen Hals, doch er riss sich los. Beim nächsten Annäherungsversuch biss er mir in die Hand. Nicht sehr – an zwei Stellen blutete es ein bisschen. Ich fuhr ächzend zurück. Der Hund lief zu einer Tür ins Nachbarzimmer, stieß mit den Pfoten dagegen und verschwand.

Die ganze nächste Stunde blieb Alexander dort drinnen. Ich verstand, dass er allein sein wollte, und beherzigte diesen Wunsch. Dabei war mir mulmig zumute, ich hatte Angst, es könnte jeden Moment ein Schuss zu hören sein. (Schon einmal, aus ganz nichtigem Anlass, hatte er gedroht sich umzubringen.) Doch statt eines Schusses ertönte Musik. Er hatte I Follow the Sun aufgelegt. Als das Lied zu Ende war, spielte er es von vorn. Dann noch einmal. Seine Seele brauchte anscheinend eine Sauerstoffdusche.

Ich saß immer noch auf dem Teppich vor dem Sofa. Kaum dass ich mich ein wenig beruhigt hatte, stellten sich mögliche Erklärungen für das Geschehene ein. Als Erstes musste ich an den toten Lord Cricket denken und seinen Vortrag über die Schlangenkraft, die im Schweif ihren Sitz hat. Das bloße Wort Überwertier hatte damals bewirkt, dass ich all seine Gedankengebäude als Schwachsinn verbucht hatte, eine Girlande stinkender Blasen aus dem Sumpf der Trivialesoterik. Doch zumindest ein Aspekt dessen, was hier soeben vorgefallen war, schien den Theorien des Lords Gewicht zu geben.

Kurz vor seiner Verwandlung war Alexander nach hinten umgekippt, als hätte ihn jemand am Schweif gezogen. Oder als wäre dieser plötzlich bleischwer gewesen. Jedenfalls war etwas geschehen, das ihn kalt erwischt hatte – und mit seinem Suggestionsgerät zu tun haben musste. Lord Cricket wiederum hatte gesagt, der Übergang vom Wolf zu dem, was er Überwertier nannte, geschehe dann, wenn die Kundalini bis in das äußerste Ende des Schweifes absacke. Und außerdem …

Das war das Unangenehmste. Er hatte außerdem erwähnt, es bedürfe auch noch einer »Invokation der Finsternis«, der spirituellen Einwirkung eines »übergeordneten dämonischen Wesens« …

Little me?

Schwer vorstellbar. Andererseits, warum sollten die Ausführungen des seligen Lords nicht auch ein zufälliges, von jenem Aleister Crowly entfachtes Fünkchen Wahrheit enthalten? Überall auf der Welt gab es Geheimkonzilien, mystische Rituale, nicht alles musste zwangsläufig Scharlatanerie sein. Und eins stand jedenfalls außer Frage: Bei dem, was hier passiert war, spielte ich eine maßgebliche Rolle. Als Katalysator für irgendeine unklare alchimistische Reaktion vielleicht. Wie Haruki Murakami schreibt: Viel Kraft geht von einer Frau nicht aus, doch das bisschen kann das Herz eines Mannes in Aufruhr bringen …

Am schrecklichsten war die Erkenntnis, dass das Vorgefallene nicht rückgängig zu machen war – für solche Dinge hat ein Werwesen ein sicheres Auge. Alexander würde nie wieder der Alte sein, das spürte ich. Ich musste darüber nicht spekulieren – ich wusste es mit dem Schweif. Es war, als stünde ich vor den tausend Scherben einer kostbaren Vase, die ich fallengelassen hatte. Da war nichts zu kitten.