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Ich nahm meinen Mut zusammen und ging zu der Tür, hinter der er verschwunden war, klinkte sie auf.

Hier war ich noch nicht gewesen. Ein winziger Raum, eine Art Ankleidekammer. Darin ein kleiner Tisch, ein Sessel und ein im Halbkreis um die Wände herumlaufender Schrank. Auf dem Tisch stand ein kleines digitales Tonbandgerät. Er ließ zum x-ten Mal seinen Shocking-Blue-Song laufen, worin jemand der Sonne bis zum Ende der Zeiten zu folgen versprach.

Alexander war nicht wiederzuerkennen. Er hatte sich bereits umgezogen, trug nicht mehr die Generalsuniform, sondern ein dunkelgraues Jackett und einen schwarzen Rollkragenpullover. In solchem Aufzug hatte ich ihn noch nie gesehen. Die Hauptsache aber: Irgendetwas Unfassbares war mit seinem Gesicht geschehen. Die Augen schienen enger zu stehen, außerdem heller geworden. Und es hatte einen anderen Ausdruck: Verzweiflung, verhaltene Wut – wobei wahrscheinlich keiner außer mir die aufgesetzte Ruhe in diese Bestandteile hätte sezieren können. Er war es – und war es auch wieder nicht. Mir gruselte.

»Alex«, rief ich ihn leise an.

Er schaute auf.

»Erinnerst du dich an das Märchen von der feuerroten Blume?«, fragte er.

»Klar.«

»Jetzt verstehe ich erst den Sinn.«

»Nämlich?«

»Liebe führt nicht zur Verwandlung. Sie führt dazu, dass Masken fallen. Ich hatte gemeint, ich wäre ein Prinz. Und nun zeigt sich … So sieht sie aus, meine Seele.«

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten.

»So darfst du nicht reden«, flüsterte ich. »Es ist nicht wahr. Gar nichts hast du verstanden. Das hat mit Seele absolut nichts zu tun. Das ist wie … wie …«

»Wie Aus-dem-Ei-Schlüpfen«, sagte er traurig. »Zurückschlüpfen geht nicht.«

Was er da sagte, traf meine Empfindungen erstaunlich genau. Dass der Wandel unumkehrbar war. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wäre am liebsten im Fußboden versunken und in der Erde, tief und tiefer … Dabei schien er nicht mir die Schuld zu geben. Gab mir im Gegenteil zu verstehen, dass er den Grund bei sich selber suchte. Er hat doch ein edelmütiges Herz!, dachte ich.

Er stand auf.

»Mein Flieger nach Norden geht gleich«, sagte er und fuhr mir zärtlich mit den Fingern über die Wange. »Komme, was kommt. Wir sehen uns in drei Tagen.«

Er war schon nach zweien zurück.

Ich erwartete ihn nicht an diesem Morgen, auch mein Instinkt hatte mich nicht vorgewarnt. Das Klopfen an der Tür war seltsam leise. Hätte die Polizei vor der Tür gestanden, Brandschutz- oder Hygieneinspektion, der Stadtteilarchitekt oder sonst irgendwelche Träger nationalen Ideenguts – es hätte anders geklungen. Das Klopfen kenne ich, wenn zur Kasse gebeten wird. Ich tippte auf die alte Putzfrau, die die Tribünen saubermachte. Sie kam manchmal und bat um heißes Wasser. Ich hatte ihr schon zweimal meinen Teekocher angeboten, sie kam lieber vorbei – wohl aus Einsamkeit.

Draußen stand Alexander: totenbleich, mit blauen Ringen um die Augen und einer langen Schramme über die linke Wange. Er trug einen zerknitterten Sommermantel. Außerdem roch er nach Alkohol – keine Schnapsfahne, es roch nach frischem Spiritus, wie aus der Flasche. Das hatte ich an ihm noch nie gerochen.

»Wie hast du mich denn gefunden?«

Eine dümmere Frage ließ sich schwer ausdenken. Er überhörte sie einfach.

»Wir haben keine Zeit. Kannst du mich irgendwo verstecken?«

»Klar«, sagte ich. »Komm rein.«

»Deine Wohnung scheidet aus. Sie ist unseren Leuten bekannt. Fällt dir was anderes ein?«

»Na, bestimmt. Komm erst mal rein, lass uns das in Ruhe besprechen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Wir müssen sofort los. In fünf Minuten kann es zu spät sein.«

Ich begriff, dass die Sache ernst war.

»Gut«, sagte ich. »Kommen wir irgendwann zurück?«

»Kaum.«

»Dann packe ich schnell eine Tasche. Und nehme das Fahrrad mit. Kommst du kurz mit rein?«

»Ich warte hier.«

Minuten später waren wir auf dem Pfad, der von der Pferderennbahn in den Park führte. Ich schob das Fahrrad, um meine Schulter hing eine schwere Tasche, Alexander machte keine Anstalten, mir etwas abzunehmen. Das passte gar nicht zu ihm – doch ich merkte, dass er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.

»Ist es noch weit?«, fragte er.

»Halbe Stunde im normalen Schritt.«

»Was ist das für ein Ort?«

»Wirst schon sehen.«

»Ist er sicher?«

»Bombensicher.«

Ich führte ihn zu meinem persönlichen Luftschutzbunker.

Es geschieht nicht selten, dass die irgendwann für den Kriegsfall getroffenen Vorkehrungen in späteren Zeiten auch zu anderen Zwecken dienlich sind. In den achtziger Jahren rechneten viele damit, dass der Kalte Krieg irgendwann in einen heißen münden würde. Zwei Vorzeichen gab es mindestens, die auf das Bevorstehen einer solchen Wende hindeuteten:

1. In den Auslagen der Geschäfte waren Fleischkonserven aus den eisernen Reserven der Stalinzeit aufgetaucht, die für den dritten Weltkrieg angelegt worden waren. (Zu erkennen waren diese Konserven leicht: am Fehlen jeglicher Haltbarkeitsmarkierungen auf der Dose, an der speziellen, gelblichen Farbe des Bleches, einem dicken Vaselineüberzug und dem absolut geschmacksfreien, sogar farblosen Inhalt.)

2. Der amerikanische Präsident hieß Ronald Wilson Reagan. Jeder einzelne dieser Namen bestand aus sechs Buchstaben. Das ergab die Zahl 666, die apokalyptische Zahl des Tieres, worauf die Zeitschrift Der Kommunist seinerzeit besorgt aufmerksam machte. Noch dazu wurde der Nachname so ausgesprochen, dass er wie »ray gun« klang. Letzteres nun wieder meine ganz persönliche Entdeckung.

Nach ein paar Jahren stellte sich heraus, dass diese Vorzeichen keinen Krieg, sondern den Untergang der UdSSR angekündigt hatten. Der Upper rat hatte sich eingeschissen – womit der erste Teil seiner großen geopolitischen Mission erfüllt war. Damals aber schien ein Krieg sehr wahrscheinlich, sodass ich mir überlegte, was ich tun würde, wenn er ausbrach.

Ich kam auf eine einfache Lösung. Schon damals wohnte ich in der Nähe des Bitza-Parks und hatte in dessen von Gräben durchzogenem Inneren öfter geheimnisvolle Betonröhren, Schächte und Verbindungsgänge entdeckt. Diese unterirdischen Investruinen gehörten verschiedenen Sowjetepochen an, was man an den Betonsorten erkennen konnte. Manches davon war Teil eines geplanten Entwässerungssystems, anderes hatte mit Fernwärmeverbindungen und Kabeltrassen zu tun, noch anderes ließ sich überhaupt nicht zuordnen, mutete aber irgendwie militärisch an.

Der größte Teil dieser Bauten lag offen zutage. Endlich aber fand ich eine Höhle, die mir passte. Sie befand sich inmitten von undurchdringlichem Gestrüpp, außerdem viel zu weit abgelegen von Wohngebieten, als dass jugendliche Alkis oder Liebespärchen sich einfinden würden. Es führten auch keine Wege vorbei, zufällige Spaziergänger konnten sich schwerlich hierher verirren. Von außen gesehen, handelte es sich um eine Betonröhre von etwa einem Meter Durchmesser, die in einen unbefestigten Graben mündete. Nur wenige Schritte trennten die Mündung von der gegenüberliegenden Grabenwand, sodass der Eingang von oben schwer einzusehen war. Drinnen verzweigte sich die Röhre und führte in zwei kleinere Kammern. In einer hing ein Verteilerkasten an der Wand, und es gab sogar eine Lampenfassung, die an einem in die Wand getriebenen Mauerhaken hing. Wahrscheinlich führte hier ein Erdkabel durch.

Als ich den Ort entdeckte, gab es keinerlei Spuren von Leben darin, nur Reste von Bauschutt und einen Gummistiefel mithalb abgerissenem Schaft. Nach und nach schleppte ich Konserven dort hinein, Gläser mit Honig, vietnamesische Bambusmatten und Wolldecken. Doch es kam kein Krieg, es kam die Perestroika, die Notwendigkeit sich einzubunkern entfiel. Trotzdem habe ich »meinen Bunker« (so nannte ich diesen Ort für mich tatsächlich) auch danach noch gelegentlich inspiziert.