Die Vorräte waren natürlich längst vergammelt, doch der Ort selbst war unentdeckt geblieben. All die Jahre der Demokratie hindurch hatte nur ein einziges Mal ein Obdachloser sich hier einzunisten versucht, der anscheinend im Delirium durch den Graben gerobbt und dann in das Loch eingebogen war. Ich musste ihn einer harten Hypnoseséance unterziehen, dabei wird der Ärmste außer dieser Höhle noch manches andere vergessen haben, fürchte ich. Danach hängte ich einen Abwehrtalisman in den Eingang, was ich eigentlich lieber vermeide, weil man magische Eingriffe in den natürlichen Lauf der Dinge früher oder später mit dem Leben bezahlt. Aber dieser war minimal.
Als ich Alexander um ein Versteck bitten hörte, wusste ich sofort, dass dies der ideale Ort für ihn war. Hinzugelangen erwies sich allerdings als Problem: Er lief immer langsamer, musste öfters stehenbleiben, um Luft zu schöpfen.
Endlich kamen wir am Graben an. Er lag versteckt hinter üppig wuchernden Haselnusssträuchern und irgendwelchen Doldengewächsen, deren Namen ich immer wieder vergaß, sie wuchsen hier in gigantische Höhen, fast baumartig, sodass ich schon fürchtete, irgendwelche radioaktiven oder chemischen Rückstände könnten dafür verantwortlich sein. Alexander kämpfte sich in den Graben hinunter, bückte sich und kroch in das Rohr.
»Rechts oder links?«
»Links«, sagte ich. »Ich mach gleich Licht.«
»Wow, Licht gibts auch. Erste Sahne!«, brummte er.
Kurz darauf war es geschafft: Ich half ihm, den Mantel auszuziehen, bettete ihn auf die Matten. Erst jetzt bemerkte ich, dass das graue Jackett von Blut getränkt war.
»Da stecken Kugeln drin«, sagte er. »Zwei oder drei. Kannst du sie rausholen?«
Zum Glück hatte ich daran gedacht, den Leatherman einzupacken. Eine gewisse Sanitätserfahrung besaß ich auch, gesammelt allerdings vor sehr langer Zeit; damals waren es nicht Kugeln, die ich aus einem Männerkörper hatte entfernen müssen, sondern Pfeilspitzen. Doch war das kein gravierender Unterschied.
»Gut«, sagte ich. »Aber du darfst nicht schreien.«
Während der ganzen sich hinziehenden Prozedur gab er keinen Mucks von sich. Einmal nach einer besonders ungeschickten Handhabung des Operationsbestecks wurde sein Schweigen allerdings so lastend, dass ich befürchtete, er starb mir unter dem Messer weg. Doch er langte nur nach der Flasche mit dem Rest Wodka und nahm einen Schluck. Schließlich war ich fertig. Ich hatte ordentlich an ihm herumgeschnippelt, um die drei Silberklümpchen herauszupulen. An zweien waren kleine schwarze Härchen angebacken, und ich begriff, dass er die Schüsse abgekriegt hatte, während er … Ich wusste nicht, wie ich seine neue Gestalt nennen sollte, das Wort Hund kam mir kränkend vor.
»Fertig!«, sagte ich. »Jetzt bräuchte ich was Steriles zum Verbinden. Bleib hier liegen und ruh dich aus, ich lauf schnell zur Apotheke. Soll ich für dich was mitbringen?«
»Ja. Kauf Halsband und Kette.«
»Wie?«
»Ach, nichts«, sagte er und versuchte zu lächeln. »Nur ein Scherz. Um Medikamente musst du dich nicht kümmern, das heilt von allein. Kauf ein paar Rasierklingen, Rasierschaum. Und Mineralwasser. Hast du Geld?«
»Ja. Keine Sorge.«
»Und lass dich ja nicht in der Nähe deiner Wohnung sehen. Auf gar keinen Fall. Sie warten bestimmt schon.«
»Musst du mir nicht sagen. Aber da fällt mir ein … Michalytsch hat so ein Gerät, mit dem er den Aufenthaltsort ermitteln kann. Über irgendwelche Impulsgeber … Wenn nun so ein Ding noch irgendwo bei mir dranklebt?«
»Nein, nein, keine Bange. Er hat dich auf den Arm genommen. Wir haben dich über die Putzfrau aufgetrieben, die bei dir immer das heiße Wasser holt. Die arbeitet für uns, seit fünfundachtzig schon.«
Man lernte nie aus.
Als ich Stunden später mit zwei Tüten im Arm zurückkehrte, schlief er. Ich setzte mich neben ihn, schaute ihm lange ins Gesicht. Sein Schlaf war ruhig wie bei einem Kind. Auf dem Boden stand das Glas mit den drei blutigen Silberknollen. Einen Werwolf tötet man nicht so leicht. Michalytsch zum Beispieclass="underline" Dem konnte man sonst was über den Schädel hauen, der bekam davon nur bessere Laune. Der Champagner ist mir zu Kopf gestiegen, witzelte er hinterher … Ein harter Kerl. Das hier war keine Champagnerflasche, das waren Gewehrkugeln. Für meinen lieben Alex trotzdem eine Bagatelle.
Der alte Mythos, dass man Werwölfe nur mit Silberkugeln zur Strecke bringt – er hat unserer Community schon viel genützt! Denn
1. eitern die Wunden nie, man muss auch nicht desinfizieren – Silber ist ein natürliches Antiseptikum.
2. bekommen wir so überhaupt weniger Kugeln ab; die Menschen geizen mit Edelmetall und nehmen oft nur eine einzige Patrone mit auf die Jagd – in der Annahme, jeder Treffer müsste tödlich sein.
Im wirklichen Leben dagegen bringt ein Schuss sehr viel häufiger dem Schützen den Tod. Würden die Menschen ihr Hirn ein bisschen mehr anstrengen, kämen sie von selber drauf, wer diese Gerüchte über Silberkugeln in die Welt setzt. Doch Menschen denken zwar viel aber selten richtig, und sowieso nicht an das, was anstünde.
In den Tüten, die ich angeschleppt hatte, waren Lebensmittel und noch dieses und jenes nützliche Ding dazu. Während ich in den Graben hinabstieg und mich hinter den Tüten in die dunkle Betonröhre schob, kam mir der Gedanke, dass ich mich nun im Grunde überhaupt nicht mehr von den -zig Tausenden jung-verheirateter russischer Mädchen unterschied, auf deren zarten Schultern ganz allein der Haushalt lastete. All dies war so überraschend geschehen und glich so wenig den verschiedenen Rollen, die ich bisher im Leben gespielt hatte – ich hatte nicht einmal darüber nachdenken können, ob mir das gefiel oder nicht.
Wertieren wird nachgesagt, dass philosophische Probleme sie nicht interessieren. Nach dem Motto: Einer wird zum Werwolf respektive Werfuchs, heult den Mond an, reißt jemandem die Kehle auf, und alle großen Lebensfragen (wer bin ich und wozu auf der Welt, wo komme ich her, wo gehe ich hin?) sind gelöst … So ist das durchaus nicht. Die Rätsel der Existenz plagen uns weit mehr als jeden »marktwirtschaftlich orientierten« Menschen der Gegenwart. Nichtsdestoweniger werden wir im Kino weiterhin als selbstgefällige, phantasielose Vielfraße der immergleichen Sorte hingestellt, armselige, grausame Blutsauger.
Ich glaube übrigens nicht, dass den Menschen etwas daran liegt, uns auf diese Weise zu beleidigen. Es ist vielmehr ein Ausdruck ihrer Beschränktheit. Sie schöpfen uns nach ihrem eigenen Bild, ein anderes Modell haben sie nicht.
Selbst das Wenige, was die Menschen über uns wissen, ist verzerrt und trivial bis dorthinaus. Über Werfüchse beispielsweise erzählt man sich, sie hausten in Menschengräbern. Wenn die Leute so etwas hören, stellen sie sich Gerippe vor, Gestank, verwesende Leichen. Was müssen diese Werfüchse für ein ekles Gezücht sein, dass sie es an so einem Ort aushalten, denken die Leute dann. Etwas wie monströse Grabwürmer.
Das ist natürlich ein Trugschluss. Der Sachverhalt ist, dass das Grab in der Antike eine komplizierte Anlage aus mehreren trockenen, geräumigen Kammern war, über ein System von Bronzespiegeln fiel Sonnenlicht herein (nicht sehr viel, doch für die nötigen Verrichtungen reichte es aus). Solch ein Grab, weitab von menschlichen Behausungen gelegen, war eine ideale Wohnstatt für Geschöpfe wie mich, denen das weltliche Treiben fremd und ein Hang zu einsamen Gedankenausflügen eigen war. Von diesen Grabanlagen gibt es heutzutage kaum noch welche: Sie sind untergepflügt, von Kanälen und Straßen tranchiert. Und in den neuzeitlichen Friedhofs-Kommunalkas ist es selbst den Toten zu eng.
Doch treibt mich die Nostalgie bis heute hin und wieder auf den Moskauer Wostrjakowo-Friedhof: ein bisschen die Alleen entlangschlendern, an die Ewigkeit denken. Man sieht die Kreuze, die Sterne auf den Grabsteinen, liest die Namen, schaut in die Gesichter auf den verblichenen Photographien und denkt: Was wusste Herr Käufer vom Leben? Und was dieser Solonjan? Und die ganze Jagupolskische Sippe? Vermutlich wussten sie sehr viel, das meiste. Nur die Hauptsache nicht.