Vor meiner Übersiedlung nach Russland hatte ich ein paar Jahrhunderte in einem Grab aus der Han-Zeit gelebt, unweit des Ortes, wo sich früher einmal die Stadt Luoyang befand. Das Grab hatte zwei große Kammern, in denen sehr schöne Gewänder aufbewahrt waren, dazu Quin-Zither und Flöte, ein Haufen Geschirr – im Grunde alles, was man für den Haushalt und ein bescheidenes Leben brauchte. Und die Menschen scheuten sich, dem Grab zu nahe zu kommen, denn es ging das Gerücht von einem bösen Geist, der dort sein Unwesen treibe. Was ja, wenn man die Information von ihrer überflüssigen emotionalen Wertung befreite, seine Richtigkeit hatte.
Zu jener Zeit war ich intensiv mit spirituellen Übungen befasst und pflegte Umgang mit gelehrten Menschen aus den umliegenden Dörfern. (Die chinesischen Studenten lebten mitsamt ihren Büchern zumeist auf dem Lande, nur zu den Prüfungen fuhren sie in die Stadt und kehrten später, wenn sie ihre Beamtenzeit abgeleistet hatten, ins väterliche Haus zurück.) Manche von ihnen wussten, wer ich war, und löcherten mich mit vielen, die Vergangenheit betreffenden Fragen: ob die Chroniken denn stimmten, keine Fehler in den Zeittafeln aufwiesen, wer die Palastrevolution vor drei Jahrhunderten angezettelt hatte, und so weiter, und so fort. Ich kam nicht umhin, mein Gedächtnis anzustrengen und Auskunft zu geben, denn dafür gaben mir die gelehrten Männer die alten Texte in die Hand, in denen ich bei meinen Übungen noch mitunter nachschlagen musste.
Andere, die etwas Mutigeren, besuchten mich hin und wieder, um zwischen den alten Gräbern Unzucht zu treiben. Chinesische Maler und Dichter schätzten das Tête-à-tête mit einem Werfuchs, besonders wenn sie nicht mehr ganz nüchtern waren. Und sie mochten es, am anderen Morgen im Gras neben einem bemoosten Grabstein zu erwachen, aufzuspringen und schreiend vor Entsetzen mit aufgelöstem, im Wind flatterndem Haar zum nächstgelegenen Tempel zu laufen. Das sah sehr hübsch aus – ich beobachtete sie von hinter einem Baum und kicherte hinter vorgehaltener Hand … Nach ein paar Tagen kamen sie wieder. Was waren das damals für noble, edelmütige, feinsinnige Menschen! Oft habe ich nicht einmal Geld von ihnen genommen.
Diese idyllischen Zeiten vergingen wie im Fluge, und sie sind mir in bester Erinnerung. Wohin mich das Leben späterhin auch verschlug, immer sehnte ich mich ein bisschen zurück nach meinem gemütlichen Grab. Darum war es für mich ein Grund zur Freude, als wir hierher in die Abgeschiedenheit des Waldes umzogen. Ich hatte das Gefühl, die alten Zeiten wären wieder angebrochen. Selbst im Grundriss erinnerte die Doppelhöhle, in der wir hausten, an mein altes Domizil, auch wenn die Räume kleiner waren und ich meine Tage nicht in Einsamkeit verbrachte, sondern mit Alexander.
Er fand sich am neuen Ort schnell zurecht. Seine Wunden verheilten über Nacht, es genügte, dass er sich in den Hund verwandelte. Am nächsten Morgen blieb er es einfach und machte seinen ersten Ausflug durch den Graben. Ich war froh, dass er sich dieses neuen Körpers nicht mehr zu genieren schien – wahrscheinlich fand er sogar Spaß daran, wie an einem neuen Spielzeug. Es war wohl weniger die äußere Gestalt, die ihm zusagte, doch er genoss die Beständigkeit: Wolf zu sein war ihm immer nur für kürzeste Zeit gelungen, Hund durfte er bleiben, so lange er wollte.
Dieser schwarze Hund konnte sogar ein bisschen sprechen – die Aussprache war freilich kurios, anfangs lachte ich Tränen. Alexander war nicht beleidigt, und nach kurzer Zeit fand ich es normal. Die ersten Tage rannte er viel im Wald umher, inspizierte die neue Umgebung. Ich fürchtete, seine Ambitionen könnten ihn verleiten, ein viel zu großes Waldstück zu markieren, doch wollte ich sein Ehrgefühl nicht verletzen und sagte nichts dazu. Und im Falle des Falles hätten wir uns zu verteidigen gewusst. – Wir! An dieses Pronomen konnte ich mich einfach nicht gewöhnen.
Wahrscheinlich war es die Ähnlichkeit unserer Unterkunft mit dem Ort, an dem ich meinen Geist so viele Jahre geschult und vervollkommnet hatte, weshalb es mich drängte, Alexander meine wesentlichen Erkenntnisse vom Leben mitzuteilen. Ich musste es zumindest versuchen – was war meine Liebe sonst wert? Oder sollte ich ihn etwa so allein im eisigen Glamour der florierenden Hölle, die gleich hinter dem Waldsaum anfing, im Stich lassen? Nein, ich musste ihm die Hand reichen und den Schweif, denn tat ich es nicht, es täte sonst keiner.
Ich beschloss, ihm das wahre Wesen der Dinge zu offenbaren. Das erforderte jedoch ein paar Grundlagen, die neu für ihn waren – um auf ihnen, wie über Stufen, zum Höheren hinaufzugelangen. Schon diese Binsenweisheiten klar zu machen war schwierig.
Dazu muss man wissen: Die Wörter, die die Wahrheit ausdrücken, sind jedem geläufig – und wenn nicht, hat man sie in fünf Minuten ergoogelt. Die Wahrheit selbst aber kennt so gut wie keiner. Sie ist wie ein Magic-Eye-Bild: ein chaotisches Gewirr aus farbigen Linien und Flecken, das, fokussiert man die Augen richtig, sich in ein räumliches Bild verwandeln kann. Dem Anschein nach supereinfach, doch dieses Fokussieren kann dem Betrachter kein noch so wohlmeinender Helfer abnehmen. Die Wahrheit ist genau so ein Bild. Sie ist vor aller Augen – selbst denen schwanzloser Affen. Doch nur die wenigsten sehen sie. Dafür sind es umso mehr, die vorgeben, sie zu wissen. Was natürlich Quatsch ist – Wahrheit ebenso wie Liebe ist nichts für den Verstand. Es ist dann meist nur irgendeine ausgeklügelte Spitzfindigkeit, die dafür gehalten wird.
Einmal fiel mir ein winziges graues Säckchen ins Auge, das Alexander an einem ebenso grauen Band vor der Brust hing. Vermutlich war die Farbe dem Wolfspelz angepasst gewesen – das Säckchen sollte unsichtbar sein, wenn er zum Wolf wurde. Auf dem schwarzen Hundefell fiel es nun doch auf. Ich wollte ihn am Abend danach fragen, wenn er bei Laune war.
Er hatte die Gewohnheit, vor dem Schlafengehen eine stinkende kubanische Zigarre zu rauchen, Montecristo No. 3 oder Cohiba Siglo IV, ich kannte die Namen, weil ich sie besorgen musste. Dies war die günstigste Zeit für ein Gespräch. Falls jemand es noch nicht weiß: Rauchen führt zum Dopaminausstoß im Hirn, ein Stoff, der für Wohlbefinden sorgt. Der Raucher nimmt dieses Wohlbefinden von seiner Zukunft als Kredit und baut es ab zu gesundheitlichen Problemen. Am Abend machten wir es uns auf der Schwelle unserer Behausung gemütlich, er paffte seine Zigarre an (drinnen zu rauchen erlaubte ich ihm nicht). Ich wartete, bis sie zur Hälfte aufgeraucht war, dann stellte ich meine Frage.
»Was hast du da eigentlich in dem Säckchen vor deiner Brust, sag mal?«
»Ein Kreuz.«
»Ein Kreuz? Du trägst ein Kreuz?«
Er nickte.
»Und wozu versteckst du es? Muss man doch heute nicht mehr!«
»Muss man nicht«, sagte er. »Aber es glüht mir auf der Brust, wenn ich mich verwandele.«
»Tut es weh?«
»Das nun nicht. Aber es riecht jedes Mal nach versengtem Fell.«
»Wenn du magst, bringe ich dir ein kleines Mantra bei. Dann verbrennt dich kein Kreuz mehr.«
»Na, so weit kommts noch, dass ich deine Höllenmantras aufsage, damit mir das Kreuz nicht die Brust verbrennt. Du weißt wohl gar nicht, was das für eine Sünde wäre?«
Ich sah ihn argwöhnisch an.
»Jetzt sag bloß noch, du bist gläubig?«
»Was denn sonst. Natürlich bin ich gläubig.«
»Mehr so als Reverenz vor dem kulturellen Erbe der Orthodoxie? Oder ganz ernsthaft?«
»Die Fangfrage verstehe ich nicht. Es steht doch über uns in der Heiligen Schrift geschrieben: Sie glauben und zittern. Und das tue ich.«
»Aber du bist ein Werwolf, Alex. Nach allen rechtgläubigen Begriffen kann es für dich nur den Weg in die Hölle geben. Wieso hast du dir ausgerechnet einen Glauben ausgesucht, der die Hölle für dich vorsieht?«