»Werfüchse haben einen eigenen Glauben.«
»Und woran glauben sie?«
»An ein Überwerwesen.«
»Das, von dem Lord Cricket sprach?«
»Lord Cricket hat nur davon läuten hören. Und das auch nur kurz. Vom Überwerwesen hatte der keine Ahnung.«
»Und wer ist es, dieses Überwerwesen?«
»Es existieren Auffassungen auf verschiedenen Ebenen. Auf der primitivsten Ebene ist es ein Messias, der kommt und den Werwesen erklärt, wie es läuft. Eine solche Interpretation ist beeinflusst von der Religion der Menschen. Sogar das auf dieser Ebene maßgebliche Profansymbol ist von den Menschen abgekupfert.«
»Und welches ist das auf dieser Ebene maßgebliche Profansymbol?«
»Der auf einer Spitze stehende fünfzackige Stern. Die Menschen verstehen ihn falsch. Schreiben einen Bocksschädel ein, sodass die beiden Zacken oben Hörner ergeben. Sie sehen den Teufel in allem, nur nicht im Spiegel und im TV.«
»Und was hat der Stern in Wirklichkeit zu bedeuten?«
»Er ist ein Werfuchskruzifix. Ein Andreaskreuz mit Querbalken für den Schweif. Wir haben selbstverständlich nicht vor, jemanden zu kreuzigen. Wir sind ja keine Menschen. Es handelt sich um ein Bußezeichen für die Werfuchssünden, deren hauptsächliche die Unwissenheit ist.«
»Und das Überwerwesen nimmt diese Sünden auf sich?«
»Ja. Es wird den Werfüchsen das Heilige Buch übergeben.«
»Was für ein Heiliges Buch?«
»Es heißt, darin würde das Urgeheimnis der Werwesen offenbart. Jedes Werwesen, das es liest, wird imstande sein, es fünfmal zu verstehen.«
»Und wie soll das Buch heißen?«
»Das weiß ich nicht. Das weiß noch keiner. Manche sagen, anstelle eines Namens wird es ein Zeichen tragen, ein magisches Pentagramm, das alle Schranken beseitigt. Aber das sind Legenden. Der Begriff Überwerwesen hat einen tieferen Sinn, der mit all diesen Ammenmärchen nichts gemein hat.«
Ich erwartete die Nachfrage nach dem tieferen Sinn, doch es kam eine andere.
»Was soll das heißen: ein Geheimnis fünfmal verstehen? Wenn es einmal kapiert ist, wozu dann noch viermal? Man weiß doch schon Bescheid.«
»Ganz im Gegenteil. In den meisten Fällen führt ein Verstehen dazu, dass du es kein zweites Mal verstehen wirst, und zwar gerade weil du es schon zu wissen glaubst. Die Wahrheit ist nicht so beschaffen, dass sie sich ein für alle Mal verstehen ließe. Insofern wir sie nicht mit den Augen sehen, sondern nur mit dem Verstand, sagen wir: Ich verstehe. Doch in dem Moment, da wir meinen, wir hätten sie verstanden, ist sie uns in Wirklichkeit entglitten. Um im Besitz der Wahrheit zu sein, müsste man sie sich beständig vor Augen führen – oder anders gesagt, immer wieder neu verstehen, von Sekunde zu Sekunde, unentwegt. Dazu sind die wenigsten in der Lage.«
»Klar«, sagte er, »das leuchtet ein.«
»Was nicht heißt, dass es dir in zwei Tagen immer noch einleuchten wird. Dir bleiben allenfalls leere Worthülsen, und du meinst, sie wären gefüllt. Alle Menschen bilden sich das ein. Sie glauben im Ernst, sie hätten sie gehortet, die geistigen Schätze, heiligen Texte und so weiter.«
»Du meinst also, Worte können die Wahrheit gar nicht ausdrücken?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Aber zweimal zwei ist vier«, sagte er. »Das ist doch eine Wahrheit, oder nicht?«
»Nicht unbedingt.«
»Wieso nicht?«
»Na, du hast zum Beispiel zwei Eier und zwei Nasenlöcher. Zweimal zwei. Ich kann beim besten Willen keine Vier darin erkennen.«
»Und wenn man beide zusammenzählt?«
»Zeig mir, wie du das anstellen willst: Eier und Nasenlöcher zusammenzählen? Überlass das den Menschen.«
Er dachte nach.
»Wann soll denn das Überwerwesen erscheinen?«, fragte er dann.
»Das Überwerwesen erscheint jedes Mal, wenn einer die Wahrheit sieht.«
»Und was ist die Wahrheit?«
Ich schwieg.
»Ich meine: was ist die Wahrheit?«, wiederholte er.
Ich schwieg.
»Was ist denn?«, fragte er.
Ich verdrehte die Augen. Diese Grimasse steht mir wahnsinnig gut.
»Ich hab dich was gefragt, Füchslein.«
»Noch nicht klar? Schweigen ist die beste Antwort.«
»Gehts nicht auch mit Worten? Das verstünde ich, glaube ich, besser.«
»Da gibt es aber nichts zu verstehen«, antwortete ich. »Wenn dir die Frage gestellt wird: Was ist die Wahrheit?, gibt es nur eine Möglichkeit zu antworten, ohne zu lügen. Du musst die Wahrheit vor dir sehen. Und äußerlich Schweigen bewahren.«
»Siehst du denn die Wahrheit vor dir?«, fragte er.
Ich schwieg.
»Gut, dann stelle ich die Frage anders. Wenn du die Wahrheit vor dir siehst, was genau siehst du?«
»Nichts«, sagte ich.
»Nichts? Und das soll die Wahrheit sein?«
Ich schwieg.
»Wenn da nichts ist, warum reden wir dann überhaupt drüber?«
»Du verwechselst Ursache und Folge. Wir reden nicht deshalb von Wahrheit, weil da etwas ist. Umgekehrt: Wir denken, da müsste etwas sein, weil das Wort Wahrheit existiert.«
»Ja, eben! Das Wort existiert. Warum existiert es?«
»Darum. Alle Wortspulen aufzudröseln, dafür reicht die Ewigkeit nicht. Fragen und Antworten lassen sich beliebig viele ausdenken, Wörter kann man so oder anders zueinander stellen, und jedes Mal pappt irgendein Sinn daran fest. Sinnlos! Ein Sperling zum Beispiel stellt niemandem Fragen. Aber ich denke nicht, dass er deswegen von den Wahrheit weiter entfernt ist als Lacan und Foucault.«
Vielleicht weiß Alexander gar nicht, wer Lacan und Foucault sind, fiel mir ein. Obwohl, hatte er nicht von dieser Antigehirnwäscheschulung erzählt? … Egal. Ich musste einfacher sprechen.
»Pass auf, ich machs kurz: Vor allem der Wörter wegen sind die Menschen voll am Arsch, ey! Und wir Werwesen mit. Denn obwohl wir Werwesen sind, sprechen wir ja ihre Sprache.«
»Aber es hat doch seinen Grund, wozu Sprache existiert«, sagte er. »Wenn die Leute am Arsch sind, muss für sie rauszukriegen sein, warum und wieso.«
»Wenn du am Arsch bist, hast du zwei Möglichkeiten. Entweder du versuchst rauszukriegen, wieso du am Arsch bist. Oder du siehst zu, dass du wegkommst von da. Manche Leute, mitunter auch ganze Völker machen den Fehler und denken, diese beiden Verrichtungen hingen irgendwie zusammen. Dem ist nicht so. Und vom Arsch zu springen ist bei weitem einfacher als zu verstehen, wie man drangekommen ist.«
»Wieso?«
»Abspringen ist ein einmaliger Akt, dann ist man weg und kann das Ganze vergessen. Um zu verstehen, wie man in diese Lage gekommen ist, braucht es ein ganzes Leben. Das man dann eben in dieser Lage verbringt.«
Wieder schwiegen wir eine Zeit lang und blickten in die Dunkelheit. Dann stellte Alexander noch eine Frage.
»Trotzdem. Wozu haben die Menschen eine Sprache, wenn sie doch nur Scherereien macht?«
»Erstens braucht man sie zum Lügen. Zweitens, um Giftpfeile aufeinander zu schießen. Drittens, um über Dinge zu diskutieren, die es gar nicht gibt.«
»Und was ist mit denen, die es gibt?«
Ich hob den Finger.
»He-he, was soll das? Warum zeigst du mir den Finger?«
»Ich zeige dir nicht den Finger. Der Finger zeigt dir etwas. Über das, was existiert, muss man nicht diskutieren. Es ist da, vor deiner Nase, du kannst es sehen. Es genügt, mit dem Finger darauf zu zeigen.«
Mehr wurde an dem Abend nicht gesprochen. Doch ich wusste, die ersten Samenkörner waren auf fruchtbaren Boden gefallen. Die nächste Gelegenheit würde sich bieten.
Sollte unsere Art, Liebe zu machen, irgendjemandem pervers erscheinen (Schweifbefleckung hat er es genannt – joi! ein unvergessliches Wort), so empfehle ich, genauer hinzuschauen, was Menschen sich dabei antun. Erst waschen sie ihre Körper, entfernen die Haare, sprühen sich Essenzen auf, die den natürlichen Geruch ausmerzen (das regte den Grafen Tolstoi immer besonders auf, erinnere ich mich) – und das alles, um kurzzeitig fuckable zu sein. Nach dem Liebesakt versinken sie gleich wieder in die peinlichen Petitessen der persönlichen Hygiene.