Hach, was war das für ein Abend! Nie zuvor hatten wir uns so tief fallengelassen. Früher während unserer Liebeshalluzinationen hatte ich doch immer noch gewusst, wo ich mich befand und was geschah. Was ich diesmal erlebte, ließ mich für Momente vollkommen vergessen, wer ich war: die Frau aus Hongkong mit dem russischen Namen Su (na gut, Flugzeuge heißen hier so) oder ein russischer Werfuchs mit dem chinesischen Namen A Huli. Ein paarmal bekam ich einen richtigen Horror – so als hätte ich mir ein Ticket für die schärfste amerikanische Achterbahn gekauft.
Der Grund lag bei Alexander. Von ihm ging diesmal eine so gewaltige hypnotische Welle aus, dass ich nicht widerstehen konnte. Zumindest für kurze Zeit erlag ich selbst einer Halluzination, versank restlos in ihr. Einmal biss er mich sanft ins Ohrläppchen und sagte: »Nicht schreien.« Dabei hatte ich überhaupt nicht bemerkt, dass ich schrie. Mit einem Wort, es war der totale Flash. Erst jetzt konnte ich verstehen, was bei unseren Kunden jedes Mal abging, wenn wir unseren Schweif zum Einsatz brachten. Die Menschen hatten wahrlich allen Grund, sich vor uns in Acht zu nehmen! Andererseits, wenn ich gewusst hätte, mit was für Extremerfahrungen wir sie beglückten, ich hätte mindestens das Dreifache dafür verlangt.
Als das Ganze vorüber war, blieb ich neben ihm auf der Matte liegen und ließ mir Zeit, mich wieder einzukriegen. Es war, als wäre der ganze Körper ertaubt – die Blutzirkulation musste erst wieder in Gang kommen. Schließlich fühlte ich mich auch zum Sprechen wieder in der Lage. Er hatte sich in der Zwischenzeit zum Menschen zurückverwandelt.
»Hats dir gefallen?«, fragte ich.
»Ach, doch. Gute Überwachungskameras. Und der Regisseur scheint auch nicht ganz blöd zu sein.«
»Ich rede gerade von was anderem.«
»Wovon denn?«, fragte er und zog verwundert eine Braue nach oben.
Es war zu merken, dass er guter Laune war.
»Davon, Alex, davon.«
»Ach so, da-a-von … Na, wenn wir grad da-a-von reden: Mir hat das eine Lied besonders gut gefallen. Könnten wir das nicht noch mal laufen lassen?«
»Welches meinst du?«
»Ja, sieh paar Zahnlos-Dias.«
»Hä?« Ich zog die Stirn kraus.
»Der Text geht so ähnlich«, sagte er ein bisschen verlegen. »Natürlich singt er was anderes, aber es klingt genau so.«
»Paar Zahnlos-Dias? Was soll das denn … Ah! Ich weiß: Y así pasan los días, y yo desesperando … Das ist spanisch und heißt: So vergehen die Tage, und ich bin verzweifelt …«
»Ach ja?«
»Und du dachtest wahrscheinlich, Lichtbildervortrag im Seniorenheim …«
»Mach du nur immer deine Witze«, sagte er friedfertig. »Legen wirs noch mal ein? Am besten gleich noch mal den ganzen Film …«
Am nächsten Tag guckten wir den Film schon wieder, und so noch viele Male. Und jedes Mal wurde dieser Wirbelsturm der Gefühle aufs Neue entfacht und räumte die Seele so wonniglich leer wie beim ersten Mal. Anschließend lagen wir lange beieinander und ruhten aus. Dabei wurde nicht geredet – es gab nichts zu bereden, und zum Sprechen fehlte ohnehin die Kraft.
Mir gefiel es, meine Sohlen an ihn zu legen, wenn er zum schwarzen Knäuel zusammengerollt lag – der Form halber knurrte er manchmal, doch wusste ich, es war ihm genauso angenehm wie mir. Mit welch zärtlichen Gefühlen ich heute an diese Tage zurückdenke! Es ist so wunderbar, wenn zwei Geschöpfe einen Weg finden, einander Glück und Freude zu schenken. Und was muss einer für ein Frömmler sein, um sie deswegen anzuprangern, nur weil sie es ein wenig anders tun als andere!
Wie viele dieser seligen Augenblicke mögen es gewesen sein, die wir erschöpft beieinander auf der Matte lagen, nicht imstande, uns zu rühren? Ich meine, zusammengenommen eine ganze Ewigkeit. Jedes Mal löste die Zeit sich auf, und bis sie wieder in ihr übliches Maß zurückgefunden hatte, das konnte dauern. Wie klug das Leben doch eingerichtet ist, dachte ich mit träger Befriedigung, während Nat King Cole unser Lieblingslied sang. Erst war da einer, groß, grau und grob, wollte unbedingt die Sonne verschlingen. Hätte es vermutlich auch zuwege gebracht. Und lag nun als friedliches schwarzes Hündchen zu meinen Füßen, still und zahm, darum bittend, nicht ausgelacht zu werden. Da war er, der wohltuende Einfluss der Frau als Hüterin des heimischen Herdes. Von wo Kultur und Zivilisation ihren Ausgang nahmen. Ich hatte nicht gedacht, mich einmal in dieser Rolle wiederzufinden.
Ach, mein lieber Alex, dachte ich, schade, dass du nie über so was sprichst, und ich traue mich nicht, danach zu fragen, aber … du wirst dein voriges Leben – das einsame, raue, wölfische – doch hoffentlich nicht vermissen? Mit mir ist es doch viel besser als allein – nicht wahr, Liebster?
Wie?
… Y tú, tú contestando:
Quizás, quizás, quizás …
Mehr als einmal dachte ich darüber nach, was dieser Hund, der sich angeblich vom Werwolf genausosehr unterschied wie ein Werfuchs, nun eigentlich für einer war. Mythologische Parallelen ließen sich viele finden, aus eigener Erfahrung war mir solch seltsame Abart eines Werwesens bisher unbekannt. Dieser blauschwarze Köter machte einen harmlosen Eindruck, doch mein Instinkt sagte mir, dass er ein düsteres Geheimnis barg. Zufällig kam es heraus.
Der Tag hatte mit einem kleinen Streit begonnen. Wir hatten uns zu einem Waldspaziergang aufgemacht, rasteten auf einem umgestürzten Baumstamm, und ich kam auf die Idee, ihn mit einem alten chinesischen Lied auf Verse von Li Bo zu unterhalten: Der Mond über dem Grenzgebirge. Es klang, denke ich, gar nicht übel, ein bisschen zu hoch vielleicht, aber das hatten sie im alten China immer besonders gemocht. Doch meine Sangeskunst prallte frontal gegen die Cross-Culture-Barriere.
»Womit habe ich, ein russischer Offizier, das verdient? So auf den Hund zu kommen!«, murmelte er kopfschüttelnd, als ich fertig mit Singen war.
Vor Kränkung schoss mir das Blut in den Kopf.
»Du und ein russischer Offizier? Machs halblang. Du bist Brigadier eines Rollkommandos.«
»Wir töten keine unschuldigen Menschen«, stellte er nüchtern fest.
»Und den Puschkinologen Schietmüller, habt ihr den etwa nicht in den Tod geschickt? Meinst du, das weiß keiner?«
»Schietmüller – wer soll das sein?«
»Oder wie der hieß … Der den Leuten für ne Kippe einen geblasen hat …«
»Irgendwie tickst du nicht richtig. Mal kommst du mir mit nem Fischkopf als Bärendienst, dann stirbt irgendein Schietmüller, und immer soll ich schuld sein.«
»Sagen will ich damit bloß, dass du reichlich Dreck am Stecken hast, darüber weiß ich Bescheid. Und liebe dich trotzdem.«
»Das ist ja das Problem«, sagte er leise.
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Wie bitte? Sag das noch mal!«
»Nur ein Scherz«, sagte er schnell. »Du machst die ganze Zeit Witze, dann darf ich wohl auch mal.«
Das Schreckliche war, dass seine Worte kein Scherz waren. Wir wussten es beide. Ein lastendes Schweigen machte sich breit.
»Und den Schietmüller haben wir nicht in den Tod geschickt, sondern in den unsterblichen Ruhm«, sagte er nach einer Weile. »Es gehört sich nicht, sein Andenken in den Schmutz zu ziehen.«
Richtig. Ein Themenwechsel war angesagt.
»Soll das heißen, er hat es gewusst?«, fragte ich.
»Mit einem Eckchen seines Bewusstseins wird er es gewusst haben.«
»Und das bedeutet, man hat sich nichts vorzuwerfen, ja?«
Alexander zuckte die Achseln.
»Erstens hatten wir eine Verpflichtungserklärung von ihm, die er in der Klapsmühle unterschrieben hat: Ich möchte einmal London sehen und sterben, Datum und Unterschrift. Und zweitens haben wir zu den humanitären Aspekten der Aktion vorher einen Fachberater konsultiert. Der meinte, es wäre o.k.«