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»Wohl Pawel Iwanowitsch?«, fragte ich ahnungsvoll.

Alexander nickte.

»Wie hat der überhaupt zu euch gefunden? Pawel Iwanowitsch, meine ich?«

»Ihm lag irgendwie daran, dass wir von seiner Reue erfuhren. Seltsamer Fall natürlich, aber warum so einen vor den Kopf stoßen? Besonders wenn die Reue echt ist. Informationen können wir immer gebrauchen – gerade auch auf kulturellem Gebiet: dass man ungefähr weiß, wer dafür ist, wer dagegen. Das bedeutet wieder neue Konsultationen. So hat sich das eingespielt … Na gut, wir kommen vom Thema ab. Gott hab ihn selig, den Schietmüller. Falls die Imame nicht flunkern, heißt das.«

Danach wechselten wir bis zum Abend kein einziges Wort mehr. Ich schmollte, er schmollte – es war von beiden Seiten reichlich ausgeteilt worden. Am Abend, als ihm das Schweigen zu viel wurde, sollte ich ihm dann für sein Kreuzworträtsel vorsagen.

Er war an dem Abend in menschlicher Gestalt, wodurch es in meiner Klause immer besonders gemütlich war. Ich lag unter der Lampe auf der Matte und las Stephen Hawkings neuestes Opus Eine kurze Geschichte des Universums, worin er eine Theorie von allem entwarf. (Unter dem machte er es nicht.) Alexanders Fragen lenkten ab, doch ich gab geduldig Antwort. Manche erheiterten mich noch mehr als mein Buch.

»Wie schreibt sich Gynäkologie? Mit h hinterm ä?«

»Ohne.«

»Na, ein Glück. Dann passt es. Ich dachte immer, mit h.«

»Das kommt, weil du dir Frauen am liebsten an der Nähmaschine vorstellst.«

»Stimmt nicht«, protestierte er. Dann lachte er plötzlich auf. »Ha! Das kommt auch gut.«

»Was kommt auch gut?«

»Stomagynäkologie.«

»Was soll das sein?«

»Hier in dem Rätsel kreuzen sich zwei Wörter: Stomatologie und Gynäkologie. Wenn man das um die Ecke liest … Ist doch lustig, oder?«

»Das kommt dir lustig vor, weil du nichts darüber weißt«, sagte ich. »So eine Kulturtheorie existiert tatsächlich. Es gibt eine US-amerikanische Schriftstellerin Camille Paglia, die hat … Nein, sie hat nicht, aber sie operiert gern mit dem Begriff Vagina dentata – gezähnte Vagina. Ein Symbol für das formlose, allesverschlingende Chaos, wie es dem männlich-apollinischen Prinzip entgegensteht, für das ein Streben nach konturierter Form typisch ist.«

»Kenn ich doch«, sagte er.

»Aha? Woher denn?«

»Hab ich gelesen. Viele Male.«

Ich wollte es nicht glauben. »Du hast Camille Paglia …«

»Nicht doch.«

»Woher dann?«

»Aus der FSB-Akademie.«

»Die Gegengehirnwäsche?«

»Nein.«

»Woher denn dann, sag doch mal!«, ließ ich nicht locker.

»Von der Wandzeitung«, erteilte er widerstrebend Auskunft. »Da gab es so eine Spalte: Heute schon gelacht? Und da stand einmal ein Witz: Was ist schrecklicher als ein Atomkrieg? Eine Möse mit Zähnen.«

»Ah ja.« Mit etwas Ähnlichem hatte ich gerechnet. »Und wieso viele Male?«

»Die Wandzeitung hat ein Vierteljahr nicht gewechselt.«

»Tja«, sagte ich. »Das lässt tief blicken.«

Mein Tonfall schien ihn zu ärgern.

»Ich frage mich, wieso du mir ständig Unbildung vorwirfst?«, warf er gereizt hin. »Du kennst dich natürlich in diesen ganzen Diskursen besser aus. Aber ganz blöd bin ich auch nicht. Meine Kenntnisse liegen mehr auf praktischem Gebiet. Und sind darum viel besser brauchbar als deine, das mal nebenbei.«

»Darüber ließe sich streiten.«

»Versuch es nur. Nehmen wir an, ich hätte diese Camillappalia von vorne bis hinten auswendig gelernt. Was brächte mir das?«

»Das hinge von deinen Interessen ab. Von deiner Phantasie.«

»Kannst du mir auch nur einen einzigen Fall nennen, wo das Lesen eines Buches von Camillappalia jemandem im realen Leben geholfen hätte?«

Ich dachte nach.

»Kann ich.«

»Da bin ich aber gespannt.«

»Ich hatte mal einen spiritistisch veranlagten Kunden. Der hat während einer Sitzung dem Geist des russischen Dichters Igor Sewerjanin Camille Paglia vorgelesen. Und Igor Sewerjanin hat über die Untertasse geantwortet, dass es ihm sehr gefällt und dass er schon die ganze Zeit etwas Ähnliches im Geiste bewegt hat, nur dass er es nicht so gut ausdrücken konnte. Er hat sich sogar mit ein paar Versen revanchiert: Unsre Begegnung, Vagina dentata, / ist nur ein einziges Mal erblüht. / Vorher und nachher dem Mann, dem Soldaten, / gibt sich das Leben einsam und prüd' …«

»Siehst du«, entgegnete er, »dieses einsame Soldatenleben habe ich geführt, ohne deine Frauenzahnkunde. Und hab mich um die Heimat verdient gemacht.«

»Und sie hat es dir heimgezahlt. Wie üblich.«

»Nicht ich muss mich dafür schämen.«

»Keiner schämt sich dafür. Weißt du denn immer noch nicht, wo du lebst. Mann?«

»Nein«, sagte er. »Und ich will es auch gar nicht wissen. Die Welt, in der ich lebe, schaffe ich mir selbst. Durch meiner Hände Arbeit.«

»Wow, was für ein mustergültiger Held! Wenn deine Schnüffelbrüder das hören könnten, sie würden dir gleich noch einen Orden anheften. Diesen Ort hier hast du uns also auch mit deiner Hände Arbeit geschaffen?«

»Nein, das warst du.«

Ich pfiff mich innerlich zur Ordnung.

»Ja. Du hast Recht. Entschuldige bitte.«

»Keine Ursache«, sagte er und vertiefte sich in sein Kreuzworträtsel.

Ich schämte mich. Ging zu ihm hin, setzte mich daneben, legte den Arm um ihn.

»Wozu streiten wir eigentlich, Alex. Wollen wir nicht lieber ein bisschen miteinander heulen?«

»Jetzt nicht«, sagte er. »Nachts, wenn der Mond aufgeht.«

Ich blieb, den Arm um seine Schultern gelegt, neben ihm sitzen. Er schwieg. Nach ein, zwei Minuten spürte ich, wie sein Körper kaum merklich zu beben anfing.

Er weinte. Das hatte ich noch nie gesehen.

»Was ist denn los, was hast du?«, bemühte ich mich liebevoll um ihn. »Wer hat meinem kleinen Jungen ein Leid getan?«

»Niemand«, sagte er. »Mir war so. Wegen deiner Camillappalia, die unten Zähne hat.«

»Ihretwegen musst du heulen? Aber warum denn?«

»Weil sie dort Zähne hat und ich … neuerdings … Krallen.«

»Wo?«

»Na eben … da. Wenn ich mich verwandle. So was wie eine fünfte Pfote. Ich hab mir nicht getraut, es dir zu sagen.«

Nun war alles klar. Seine neue Verschlossenheit, die Aura einer irrationalen Grausigkeit, die ihn umgab, solange er Hund war. Alles passte zueinander. Der Ärmste, wie sehr muss er gelitten haben!, dachte ich. Vor allem sollte ich ihm zu verstehen geben, dass er mir auch so lieb und teuer war – falls er das noch nicht gemerkt hatte.

»Du Dummer!«, begann ich. »Was tut das? Von mir aus kann dir dort ein Kaktus wachsen. Hauptsache, der Schweif ist heil.«

»Dir ist das wirklich nicht wichtig?«, fragte er.

»Natürlich nicht, Liebster.«

»Und dir genügt es … ich meine, so wie wir es machen?«

»Es genügt mir nicht nur.«

»Ehrlich?«

»Na gut, wenn du schon so fragst: Ich würde auch gerne mal tauschen. Dass du ab und zu Su bist und ich Chow. Bis jetzt bin ich immer nur Su gewesen.«

»Nein, entschuldige. Du musst mich nicht auch noch zum Homo machen. Es reicht mir schon mit den Krallen …«

»Wie du meinst. Ich bestehe nicht drauf. Es war ja nur, weil du gefragt hast.«

»Können wir mal ganz offen darüber reden?«

Ich nickte. »Das tun wir doch schon.«

»Warum hast du mir in der ganzen Hongkong-Zeit kein einziges Mal einen geblasen? Ist es, weil ich in Wirklichkeit ein schwarzer Hund bin?«

Ich zählte im Stillen bis zehn. Dass ich dieses Thema verbal nicht ertrug, war letztlich nicht sein Problem, sondern meines. Ich durfte es ihm nicht übelnehmen.