Der Sikh erwies sich als einigermaßen friedfertig; er faselte etwas in seiner Muttersprache und machte sich in der Bettmitte zu schaffen, man musste nicht fürchten, dass er herausfiel. Trotzdem warf ich gelegentlich einen Kontrollblick auf den Patienten, wie es sich für eine Nachtschwester gehört. Als er meinte, das Nichts lange genug von oben umfangen zu haben, schmiegte er sich seitlich an. Sodann bestieg er es wieder.
An diesen Anblick kann man sich nur schwer gewöhnen. Die Leute kriegen Muskelkrämpfe, und darum sieht es in diesen Phasen so aus, als läge der Kunde tatsächlich auf einem unsichtbaren Körper. Sein ganzes Gewicht ruht auf den seltsam verrenkten Händen, manchmal auch nur den Fingern. Willentlich könnte ein Mensch sich schwerlich auch nur Sekunden in solch einer Positur halten, in Trance bringt er Stunden darin zu. Doch derlei Phänomene sind in der Literatur zur Hypnose ausführlich beschrieben, da springt kein Nobelpreis für mich raus. Was soll mir auch der Menschen Ruhm! Ich brauche von den Menschen nichts weiter als ihre Liebe und ihr Geld.
Diese Methode zur Bewahrung ewiger Jugend, wie sie der allgemeine Lauf der Dinge mir eröffnete, hat mich immer ein bisschen peinlich berührt, auch wenn ich alle Bezichtigungen eines Vampirismus von mir weise. Fremde Lebenskraft zu stehlen hat mir nie irgendwelche Lust bereitet. Ich meine, moralische Befriedigung. Der physiologische Aspekt bei der Sache ist nicht von der Hand zu weisen, doch er unterliegt keiner moralischen Bewertung: Noch der tierliebste Mensch kann mit Genuss ein blutiges Steak verzehren, das ist kein Widerspruch. Außerdem habe ich – im Unterschied zu den Menschen, für die das Töten von Tieren normal ist – schon seit Jahrhunderten niemanden mehr ums Leben gebracht. Jedenfalls nicht wissentlich. Unglücksfälle mag es geben, doch eine mit mir verbrachte Nacht ist auf jeden Fall weniger gefährlich als ein Flug mit einem russischen Hubschrauber bei mittelmäßiger Sicht. Und wird bei mittelmäßiger Sicht mit Hubschraubern geflogen? Sehen Sie. So ein Hubschrauber bin auch ich.
Außerdem empfinde ich es nicht so, dass ich jemandem persönlich Energie klaue. Wenn einer einen Apfel isst, nimmt er zu diesem Apfel keine private Beziehung auf, er folgt der bestehenden Weltordnung. Ähnlich betrachte ich meine Position in der Nahrungskette. Energie, die dazu bestimmt ist, Leben zu zeugen, kann niemandem gehören. Wer sich in den Liebesakt einlässt, wird zum Kanal, verwandelt sich von einem versiegelten Gelaß in ein Rohr, das für ein paar Sekunden mit dem bodenlosen Urquell von Lebenskraft kommuniziert. Diesen Quell muss ich anzapfen, das ist alles.
»Jetzt dreh dich mal auf dein Bäuchlein, Kleines«, sagte der Sikh. »Wir wollen ein bisschen zur Sache kommen.«
Analsex ist der Lieblingssport von Portfolio-Managern. Das lässt sich psychoanalytisch einfach erklären. Nicht zufällig existiert der Ausdruck Arschvergolden in zweierlei Bedeutung. Mein Verhältnis zum Analverkehr ist positiv. Denn dabei lässt der männliche Organismus besonders viel Lebenskraft springen – Erntehochzeit für unsereins.
Ich legte das Buch beiseite, schloss die Augen und startete die übliche Visualisierung: Yin und Yang, umgeben von acht lodernden Trigrammen. Dann visualisierte ich mich selbst als die schwarze Hälfte des Zeichens, den Sikh als die weiße. In der Mitte der schwarzen Hälfte glühte ein weißer Punkt auf, in der Mitte der weißen erschien ein schwarzer. Die weiße Hälfte verdunkelte sich, die schwarze hellte auf, am Ende hatten sie ihre Plätze vertauscht. Somit war die gesamte Energie der Situation an mich gegangen.
Für einen Dilettanten wäre das der naheliegende Moment, um auszukoppeln. Ich hingegen arbeite ausschließlich nach der Methode Die Braut gibt einen Ohrring zurück – so poetisch wurde sie vor rund sechshundert Jahren im Reich der Mitte bezeichnet.
Beim Stehlen fremder Lebenskraft ist es wichtig, den Himmel und die Geister nicht durch Geiz zu erzürnen. Darum gab ich der Situation Raum zur Gegenbewegung. Der Energiestrom versiegte, und es entstand ein Rückstoß. Meine Visualisierung änderte sich dementsprechend rapide: Im Zentrum der weißen Hälfte vom Yin-Yang entstand ein kleiner schwarzer Fleck, in der schwarzen Hälfte einer in weiß. Erst als beide deutlich sichtbar waren, kappte ich die Energieverbindung und ließ die Visualisierung zu Nichts zergehen.
Ein guter Spieler wird das Casino nach einem großen Gewinn nicht gleich verlassen – lieber noch ein bisschen was verlieren, um die Missgunst der Leute zu besänftigen. So verhält es sich auch in unserem Fach. Die meisten Werfüchse im Altertum sind nur wegen ihres Geizes totgeschlagen worden. Damals begriffen wir: Teilen ist wichtig! Der Himmel grollt uns weniger, wenn wir Mitgefühl zeigen und einen Bruchteil der Lebensenergie rückerstatten. Das mag einem als Peanut erscheinen, doch es macht einen Unterschied aus – wie, sagen wir, zwischen Diebstahl und Pfandversteigerung. Formell haben die Geister hier nichts zu beanstanden. Und das Gewissen lässt sich sowieso nicht betrügen, man kann es also getrost außen vor lassen.
Der Sikh erhob sich und wankte ins Bad. Kam zurück, streckte sich auf dem Rücken aus, zündete sich eine Zigarette an und begann dem benachbarten Kopfkissen eine Geschichte aus seinem Leben zu erzählen; er klang erschöpft. Männer werden nach dem Koitus für eine halbe Stunde gütig und gesprächig, das hängt mit dem Dopaminausstoß im Hirn zusammen, eine Belohnung nach erfüllter Pflicht. Ich hörte kaum hin. Viel lieber hätte ich weitergelesen, wie das schwarze Loch sich verhält, wenn sein Durchmesser infolge eines Gravitationskollapses die Entfernung zum Ereignishorizont unterschreitet.
An diesen astrophysikalischen Modellen meinte ich einen erotischen Subtext wahrzunehmen, in mir reifte die Überzeugung, dass Stephen Hawkings Buch weniger von Physik handelt als vom Sex – nicht von den kümmerlichen Formen menschlicher Kopulation, nein, von einem grandiosen kosmischen Koitus, bei dem die Materie gezeugt wurde. Hier gibt es wiederum im Englischen eine sprachliche Übereinstimmung, die zu denken gibt: Big Bang meint den Urknall genauso wie den Großen Fick. Die verborgensten Seiten des Universums liegen im Dunkel der schwarzen Löcher verborgen, man hat keinen Einblick in die nackte Singularität, von dort dringt so wenig Licht heraus wie aus einem Schlafzimmer in dem der Kronleuchter ausgeschaltet ist. Im Grunde sind Astrophysiker auch bloß Voyeure, fiel mir ein. Letzteren gelingt es immerhin ab und zu, durch den Spalt zwischen den Vorhängen einen Blick auf den fremden Liebesakt zu erhaschen, während die Physiker vom Schicksal härter geschlagen sind, sie blicken ins Zappendustere, und alles bleibt ihrer Einbildung überlassen …
Als der Sikh mit seiner Zigarette und der Geschichte fertig war, drehte er sich auf die Seite und ging erneut und für länger ans Werk. Das rhythmische Knarren der Matratze war von einschläfernder Wirkung. Und ich beging die ärgste Dummheit, zu der ein Werfuchs im Dienst fähig sein kann: Ich schlief tatsächlich ein.
Eigentlich war ich nur kurz weggenickt und gleich wieder aufgewacht. Doch das hatte genügt. Mein Gefühl sagte mir, dass der Kontakt zu dem Sikh abgerissen war. Ich schaute auf – in seine aufgerissenen Augen. Er sah mich, und zwar so, wie ich wirklich war: auf meinem Stuhl sitzend, mit halb heruntergelassener Hose und hinter dem Rücken aufragendem Schweif. Dieser Anblick aber ist nur den Spiegeln und den Geistern gestattet – niemandem sonst.
Zuallererst dachte ich, einen Dao-Beschwörer vor mir zu haben. Aber das war ein selten dämlicher Gedanke, denn
1. lebte der letzte Dao-Mönch, der sich auf die Fuchsjagd verstand, im achtzehnten Jahrhundert; und selbst wenn sich einer in unser Jahrhundert herübergerettet hätte, wäre er
2. schwerlich darauf gekommen, sich als Sikh mit Bart und Oxford-Englisch zu tarnen – too freaking much; da ich
3. nach der Methode Die Braut gibt einen Ohrring zurück arbeite, wären Dao-Mönche formell gar nicht berechtigt, auf mich Jagd zu machen. Und