»Du glaubst also, dass du in Wirklichkeit ein schwarzer Hund bist?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete er, »aber der schwarze Hund glaubt, dass ich in Wirklichkeit er bin.«
»Bist du deshalb in letzter Zeit so selten Mensch?«
Er nickte.
»Mir liegt auch nicht mehr so viel dran. Außer dir habe ich ja hier nichts mehr. Alles ist dort geblieben … Also ich meine, hier, aber nicht bei mir, sondern bei ihm … Mann, mit der Sprache, da hast du Recht, sie macht einen ganz wirr im Kopf. Aber wie ist das mit dem Blasen, sag mal?«
Noch einmal zählte ich bis zehn, aber es half nichts.
»Dürfte ich darum bitten, dieses Thema in meiner Gegenwart nicht mehr anzuschneiden?«, platzte ich heraus.
Er zuckte die Achseln und grinste schief.
»Jetzt darf man schon nicht mal mehr alles sagen. Nur du hast die Sondergenehmigung, wie? Du treibst mich ziemlich in die Enge, Füchslein, ist dir das klar?«
Ich seufzte. Unterm Strich nehmen die Kerle sich doch nicht so viel. Alle wollen sie von uns nur das eine. – Und man kann froh sein, wenn sie überhaupt wollen, gab eine meiner inneren Stimmen zu bedenken.
»Egal. Mach uns Kino. Aber nicht von vorne, fang an bei Track 3 …«
Wie nach jedem unserer unbändig schamlosen Hongkong-Rendezvous ruhten wir lange aus. Ich blickte zur Decke auf den rissigen Beton, der im scharfen elektrischen Licht wie die Oberfläche eines uralten Himmelskörpers erschien. Alexander lag neben mir. Du mein Süßer!, dachte ich, was für ein rührender Liebhaber du bist! Dabei war er in diesen Dingen vollkommen unerfahren. Wenigstens im Vergleich zu mir. Ich musste übrigens aufpassen, ihn nicht versehentlich tatsächlich Süßer zu nennen, das hätte er wieder in den falschen Hals bekommen. Mit diesen Krallen, das war nun wirklich Pech für ihn. Irgendwo hatte ich schon einmal etwas gehört von einem Hund mit fünf Pfoten. Aber wo, wie, was? Es fiel mir nicht ein.
»He!« gab er Laut. »Gehts dir gut?«
»Ja«, sagte ich. »Und dir? Hats dir gefallen?«
Er blickte mich an.
»Willst dus ehrlich wissen?«
»Aber ja.«
»Es ist der Anschiss.«
Ruckartig setzte ich mich auf. Bei »Anschiss« fiel bei mir der Groschen.
»Jetzt weiß ich es wieder!«
»Was weißt du wieder?«
»Wer du bist.«
»Wer bin ich?«
»Ich hab mal was gelesen über einen Hund mit fünf Beinen. Der heißt Pisdez. Schläft im ewigen Schnee und erwacht immer dann, wenn Russland vom Feind angegriffen wird, dann geht er hin und tritt ihm drauf … Genau! In den Mythen des Nordens kommt er, glaube ich, unter dem Namen Garm vor. Schon mal gehört von dem? Das nordische Projekt schlägt doch eher in dein Fach.«
»Nein«, sagte er. »Nie gehört. Ist ja interessant. Erzähl mehr!«
»Ein grausiger Köter, Doppelgänger des Wolfes Fenris. Tritt während der Ragnarök in Erscheinung. Bis dahin bewacht er das Totenhaus.«
»Hast du noch mehr Informationen?«
»Nichts Genaues … Mir ist, als sollte er den Männern heimlich beim Feuermachen zuschauen und das Geheimnis den Frauen verraten …«
»Abgelehnt«, brummte Alexander. »Sonst noch was?«
»Das ist alles, was ich noch weiß.«
»Und was lassen sich daraus für praktische Schlüsse ziehen?«
»Zu Garm kann ich nichts sagen. Da müsstest du in Island Erkundigungen einziehen. Und was den Pisdez betrifft … Probiers doch mal, irgendwo draufzutreten.«
Das war im Scherz gesagt, aber er nahm meine Worte vollkommen ernst.
»Wo denn drauf?«
Seine Ernsthaftigkeit steckte mich an. Ich ließ den Blick durch den Raum gehen. Notebook? Kam nicht in Frage. Wasserkocher? Nein. Die Lampe?
»Versuch mal die Lampe«, sagte ich.
Es brauchte nur einen Moment, dann flammte aus der Glühbirne ein greller, bläulicher Blitz, und sie erlosch. Finsternis trat ein, doch die auf der Netzhaut abgebildete Spirale versorgte meine innere Welt noch ein paar Sekunden länger mit dem Echo des erloschenen Lichts. Als auch dieser Abdruck verblasst war, wurde die Finsternis vollkommen. Ich stand auf, ertastete die Taschenlampe auf der Holzkiste, die uns als Tisch diente, knipste sie an. Ich war allein.
Er blieb zwei Tage weg. Ich verging fast vor Sorge und Ungewissheit. Doch als er dann hereinkam, machte ich ihm keine Vorwürfe. Das Lächeln auf seinem Gesicht entschädigte mich ausreichend für alle meine Zustände. Tschechow hat schon Recht gehabt: Die weibliche Seele ist ihrer Natur nach ein leeres Gefäß, gefüllt mit Freud und Leid des Geliebten.
»Und? Wie wars? Erzähle!«
»Was gibt es da zu erzählen«, erwiderte er. »Das muss man zeigen.«
»Weißt du jetzt, wie es geht?«
Er nickte.
»Und wo kannst du überall drauftreten?«
»Überall«, verkündete er.
»Allem und jedem?«
Erneutes Nicken.
»Mir auch?«
»Wenn du mich sehr darum bittest …«
»Und dir selber?«
»Das hab ich als Erstes probiert«, sagte er nach einem komischen Räuspern. »Gleich nach der Glühbirne. Was wäre ich sonst für ein Pisdez?«
Meine Neugier war geweckt. Ein bisschen Bangigkeit war allerdings auch dabei: Es handelte sich um einen nicht zu unterschätzenden metaphysischen Akt.
»Und was für einer bist du?«, fragte ich mit von Ehrfurcht gedämpfter Stimme.
»Ein hundertprozentiger.«
In diesem Augenblick ging so viel Kraft und romantisches Geheimnis von ihm aus, dass ich nicht an mich halten konnte: Ich streckte die Hände nach ihm aus, um ihn an mich zu ziehen und zu küssen. Er erblasste, fuhr zurück – doch dann muss ihm eingefallen sein, dass Machos sich nicht so aufführen, und er ließ mich gewähren. Alle Muskeln seines Körpers waren angespannt, doch es geschah nichts Schreckliches.
»Wie sehr ich mich für dich freue, Liebster!«, sagte ich.
Unter den Werwesen wissen die wenigsten, was es heißt, sich für einen anderen zu freuen. Die schwanzlosen Affen wissen es noch viel weniger; sie setzen ihr strahlendes Lachen auf, wenn dies geraten scheint, um ihre soziale Anpassungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und somit die Verkaufszahlen zu erhöhen. Der schwanzlose Affe mimt Freude für den anderen und fühlt doch nur Neid oder weiß bestenfalls die Contenance zu wahren. Ich aber empfand diese Freude tatsächlich – ein Gefühl, wie ein Bergquell so lauter und rein.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich für dich freue!«, musste ich gleich noch einmal sagen und ihn küssen.
Diesmal wich er nicht aus.
»Tatsächlich?«, fragte er. »Aber warum denn?«
»Weil du endlich mal gute Laune hast. Dir geht es besser. Und ich liebe dich.«
Seine Miene verdüsterte sich ein wenig.
»Ich dich auch. Aber ich kann mir nicht helfen: Ich denke die ganze Zeit, du wirst mich verlassen. Und dass es dir dann besser gehen wird. Doch das würde mich gar nicht für dich freuen.«
»Erstens habe ich nicht die Absicht, dich zu verlassen«, sagte ich. »Und zweitens ist das Gefühl, von dem du sprichst, keine Liebe, sondern ein Ausfluss von Egoismus. Für den Chauvi in dir bin ich nur ein Spielzeug, Eigentum, Statussymbol, Trophäe. Und du fürchtest mich zu verlieren, wie ein Besitzer fürchtet, ein wertvolles Ding könnte ihm abhanden kommen. So wirst du nie für einen anderen Freude empfinden können.«
»Was muss ich tun?«
»Man darf nichts für sich selber wollen.«
»Willst du behaupten, dass du nichts für dich selber haben willst?«, fragte er ungläubig.
Ich nickte.
»Wie kann das sein?«
»Ich dachte, ich hätte es dir schon erklärt. Schaut man lange genug in sich hinein, merkt man, dass da gar nichts ist. Wie könnte man für dieses Nichts etwas beanspruchen wollen?«
»Aber wenn in dir schon nichts ist, dann in den anderen doch erst recht nicht?«