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»Genau genommen ist tatsächlich nirgendwo was drin«, sagte ich. »Man hat nur die Wahl, womit man die Leere füllt. Und freust du dich für einen anderen, so füllst du sie mit Liebe.«

»Wessen Liebe ist das? Wenn niemand da ist, wessen Liebe könnte es sein?«

»Das ist der Leere egal. Und auch du solltest dir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Aber wenn du nach einem Sinn für dein Leben suchst – einen Bessren findst du nicht!«

»Und was ist Liebe anderes als Leere?«

»Sie ist Leere.«

»Wo ist dann der Unterschied?«

»In der Leere.«

Er dachte eine Weile nach.

»Könnte man die Leere nicht auch … sagen wir: mit Gerechtigkeit füllen?«

»Wenn du damit anfängst, wirst du sehr schnell zum Kriegsverbrecher.«

»Ich glaube, da verwechselst du was, Füchslein. Wieso zum Kriegsverbrecher?«

»Na, wer soll denn deiner Meinung nach entscheiden, was gerecht ist und was nicht?«

»Die Menschen.«

»Und wer entscheidet, was die Menschen entscheiden sollen?«

»Kommt Zeit, kommt Rat«, sagte er und blickte auf eine an ihm vorbeischwirrende Fliege, die im nächsten Moment zu Boden fiel.

»He, da lässt aber einer das Tier raushängen … Eiferst wohl denen nach?«, fragte ich, mit dem Kopf in Richtung Stadt deutend.

»Ich gehöre zu ihnen«, sagte er.

»Zu wem?«

»Zum Volk.« »Hallo, ich hör wohl nicht recht. Volk?«

Das dem Wort innewohnende Pathos schien ihn selbst verlegen zu machen, er wechselte eilig das Thema.

»Ich überlege, ob ich nicht mal auf Arbeit vorbeigehe. Um nach dem Rechten zu sehen.«

Ich war sprachlos.

»Meinst du das im Ernst? Waren drei Kugeln noch nicht genug? Brauchst du mehr?«

»Es könnte ein Versehen gewesen sein. Mangelnde Koordination, so was gibt es.«

»Mangelnde Koordination!«, stöhnte ich. »Das hat System! Und wenn du denkst, dieses System kann Solisten gebrauchen … Da wird im Chor gegrunzt!«

»Notfalls kann ich auch das. Überleg doch mal selbst: Was machen wir, wenn das Geld alle ist?«

»Ha, wenns weiter nichts ist! Mach dir darüber keine Sorgen. Die Stadt ist keinen Kilometer entfernt. Ich geh vor dem Einkaufen schnell auf den Strich.«

Er zog die Stirn in Falten.

»Untersteh dich, so zu reden!«

»Und du untersteh dich, ›untersteh dich!‹ zu sagen!«

»Mein Mädel geht auf den Strich, so weit kommts noch … Ich fass es nicht!«

»Mein Mädel. Wenn ich das schon höre! Wann hast du mich denn privatisiert?«

»Du willst mit Prostitution Geld verdienen! Und ich soll von dem Geld leben! Das ist doch der blanke Dostojewski!«

»Den hab ich gefickt, deinen Dostojewski!«, entfuhr es mir.

Er sah mich neugierig an.

»Und? Wie war's?«

»Ging so.«

Wir mussten beide lachen. Ich weiß nicht, wieso er, für mich gab es einen Grund. Aus Respekt vor der russischen Literatur mag ich ihn hier nicht anführen, nur so vieclass="underline" Die kleine rote Spinne aus den Dämonen ist mir seinerzeit über den Rockzipfel gekrochen … Ach, wie vielen Titanen des Geistes habe ich im Laufe der Zeit mein bescheidenes kleines Präsent gemacht! Das Einzige, was mir richtig Leid tut: dass es mir nicht persönlich vergönnt war, den Becher an Vladimir Nabokovs Lippen zu führen, den er so meisterlich ausgemalt hat. Die SU machte damals Probleme bei der Ausreise. Noch so eine Missetat, die dem finsteren kommunistischen Regime schwer auf dem Gewissen lasten möge.

Bloß gut, dass wir mit diesem Gelächter unseren Streit begruben. Beinahe hätte ich einen Fehler begangen: Man soll einem Mann nie frontal an den Karren fahren, schon gar nicht, wenn sein Selbstwertgefühl angeschlagen ist. Ich musste erst einmal herauskriegen, was in seinem Kopf vorging.

»Zieht es dich an die Ölpumpen zurück?«

»Das nun gerade nicht. Da ist jetzt Michalytsch am Heulen.«

Es sah ganz danach aus, als hätte er während seiner Abwesenheit Kontakt zur Außenwelt aufgenommen – sich vielleicht mit jemandem getroffen oder telefoniert. Doch ich mochte ihm in diesem Punkt nicht unnötig nachspionieren.

»Michalytsch? Bei seinem Geheul sind dem Schädel neulich nicht die Tränen gekommen.«

»Sie haben eine neue Technologie ausgetüftelt. Ein Mix aus fünf Kubik Ketamin und drei Kubik Pervitin, und anschließend noch ein Elektroschock.«

»Auf den Schädel?«

»Auf Michalytsch.«

»Mann, ist das pervers.«

»Das kannst du laut sagen. So ist er in einem Jahr ruiniert.«

»Du meinst, Michalytsch?«

»Michalytsch? Dem ist das egal. Nein, der Schädel. Er hat sowieso schon überall Risse von den vielen Tränen … Neureiche Banausen sind das. Hauptsache, das Öl läuft, sie scheffeln ihr Geld – und fertig ist die Laube. Was morgen wird, daran verschwenden die keinen Gedanken.«

»Was ist das eigentlich für ein Schädel, sag mal?«, wagte ich die Frage zu stellen, die mich schon lange beschäftigte. Darauf reagierte er gleich wieder fad.

»Das darf ich nicht sagen. Staatsgeheimnis. Und überhaupt mag ich nicht über die Arbeit reden.«

Dass er diesen Verein immer noch als seine Arbeit ansah, wunderte mich nicht. Es gibt Stellen, die man nicht von sich aus kündigen kann. Was mich erstaunte, war nur, dass er sich nach den Leuten zurücksehnte, die ihm drei Silberkugeln auf den Pelz gebrannt hatten. Übrigens hatte ich immer noch keine Ahnung, wer dies getan hatte und warum – Alexander hatte nichts erzählt.

»Wohin dann, wenn nicht zum Öl?«, fragte ich.

»Ein Überwerwolf findet immer Beschäftigung.«

»Wie bitte?« Ich verzog das Gesicht. »Welcher Überwerwolf ist gemeint?«

»Na, ich«, erwiderte er verwundert.

»Seit wann bist du denn ein Überwerwolf?«

»Wie, seit wann? Du warst doch dabei!«

»Und du glaubst im Ernst, du bist der Überwerwolf?«

»Was heißt hier glauben? Ich weiß es.«

»Was verschafft dir die Gewissheit?«

»Na, zum Beispiel das hier«, sagte er. »Pass auf.«

Prompt stürzte eine weitere Fliege ab, die eben noch unter der Decke gekreist war. Es sah lustig aus: Die Fliegen fielen nicht senkrecht, sondern in Parabeln, aus der vollen Bewegung, es sah aus wie winzig kleine Kamikazes, die im Sturzflug auf den Feind hinabstießen.

»Hör doch auf, den wilden Mann zu markieren«, sagte ich. »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«

»Wie meinen?«

»Na, nehmen wir an, du kannst Fliegen von der Decke holen. Nehmen wir an, du bist Pisdez und Garm in einem. Wozu musst du unbedingt auch noch Überwerwolf sein?«

»Wer sollte es sonst sein, wenn nicht ich?«

»Wie oft muss ich es dir noch sagen: Das Überwerwesen ist eine Metapher. Es auf ein konkretes Wesen zu beziehen wäre primitiv, eine Auslegung auf unterstem Niveau.«

»Dann lass es mich einfach auf unterstem Niveau sein«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Oder gönnst du es mir nicht, Füchslein?«

»Nein, komm mir jetzt nicht so. Lass uns die Sache ausdiskutieren.«

»Von mir aus«, sagte er seufzend.

»Stell dir vor, ich gehe auf den Arbat und kaufe mir beim Straßenhändler eine Uniform. In der laufe ich durch die Stadt und bilde mir ein, ich wäre General beim Geheimdienst. Du sagst: Du bist doch gar kein General. Darauf ich: Komm schon, lass mich General sein, oder gönnst du es mir etwa nicht?«

»Das ist etwas völlig anderes. General, das ist ein Rang, der von einer bestimmten Institution zuerkannt wird.«

»Genau das meine ich. Überleg mal, woher du von dem Überwertier überhaupt weißt. Doch nicht von Michalytsch, oder?«

»Natürlich nicht.«

»Es muss ein bestimmtes weltanschauliches System geben, dem dieser Begriff entstammt. Das Überwertier ist darin ein genausolcher Rang wie ein General. Zuerkannt von der Tradition. Einer, mit der du so viel am Hut hast wie ich mit deinem Verein. Verstehst du, was ich meine, Grauer?«