»Wohingegen du natürlich einen heißen Draht zu dieser Tradition hast, Füchslein, hab ich Recht?«
»Nicht bloß einen Draht«, sagte ich. »Ich bewahre sie. Als ein Linienhalter, das ist der exakte Begriff dafür.«
»Um welche Linie geht es?«
»Die Übertragungslinie.«
»Soso. Du bist also hier wieder mal die absolute Autorität, wie? Reißt du die Klappe nicht ein bisschen weit auf? Kannst du so viel wegtragen auf deinen schmalen Schultern, sag mal?«
»Du darfst die mystische Tradition nicht mit dem Shangri-La Casino verwechseln. Linienhalter heißen nicht so, weil sie sich eine Linie unter den Nagel reißen. Sie halten daran fest, das ist es.«
Meine Antwort schien ihn zu verblüffen.
»Was ist das, eine Übertragungslinie?«, fragte er. »Was wird da übertragen?«
»Nichts.«
»Wie?«
»Übertragen wird das Nichts. Ich habe es dir schon so oft erklärt, die Teekanne da dürfte es auch langsam begriffen haben.«
»Woran halten sich die Linienhalter dann fest?«
»An der Übertragungslinie jedenfalls nicht.«
»Dann verstehe ich gar nichts mehr.«
»Weil es nichts zu verstehen gibt. Man sieht etwas. Und das heißt, dass man daran festhält.«
»Na gut. Sag mir noch eins, und das möglichst klar: Hat irgendwer auf der Welt das formale Recht, sich in dieser Tradition als Überwertier zu bezeichnen? Und sei es auf unterstem Niveau?«
»Ja«, sagte ich.
»Und wer ist das?«
Ich schlug verlegen die Augen nieder.
»Sag schon!«
»Ich weiß, es wird deinen Ehrgeiz empfindlich treffen«, sagte ich. »Aber wir haben ja einander versprochen, uns immer die Wahrheit zu sagen …«
»Doch nicht etwa schon wieder du?«
Ich nickte. Er stieß einen leisen Fluch aus.
»Und von wem her kommt diese Übertragungslinie?«
»Erzähle ich dir bei Gelegenheit.«
»Nein, ich will es jetzt wissen. Damit du dir nicht wieder Märchen ausdenkst.«
Na schön, dachte ich. Die Wahrheit lässt sich nicht verbergen. Irgendwann hätte er es sowieso erfahren.
»Gut. Dann hör zu und unterbrich mich bitte nicht. Eines Abends vor ungefähr eintausendzweihundert Jahren reiste ich in dem Land, das heute unter dem Namen China bekannt ist, in meiner Sänfte von einer Stadt in die andere. Was für Städte und wozu die Reise, ist erst einmal nebensächlich. Worauf es ankommt, ist, dass wir an jenem Abend vor den Toren eines Klosters auf dem Gelben Berg Halt machten …«
Abende gab es im alten China, Stunden in Nebel und Stille, da zeigte die Welt gewissermaßen ihr Kindergesicht, führte vor, wie sie ganz zu Anfang gewesen war. Alles ringsum – Häuser, Zäune, Bäume, das Bambusdickicht, die Stäbe mit den aufgesteckten Lampen – verwandelte sich auf wundersamste Weise, schon kam es einem so vor, als hätte man diese Welt eben erst eigenhändig aus Buntpapier ausgeschnitten und sorgfältig um sich ausgelegt, worauf sie nun den Anschein der großen, großen Welt mit den vielen in ihr lebenden Menschen erweckte, man konnte hineinspazieren, wenn man wollte … An einem solchen Abend vor zwölf Jahrhunderten befand ich mich in meiner Sänfte vor den Toren eines Klosters auf dem Gelben Berg. Die Welt rundumher war wunderschön, der Blick durch das Fensterchen stimmte mich abwechselnd traurig und froh, von beidem standen mir Tränen in den Augen.
Es war die Musik, die so auf mich wirkte. Da spielte schon seit geraumer Zeit eine Flöte – sang von dem, was mir am Herzen lag. Von den zauberhaften Spielen, die wir einst im großen Haus meiner Kindheit gespielt hatten. In die wir uns so sehr vertieften, bis wir selbst an unsere Einfälle glaubten, zum Spaß mit den Puppen spazierengingen und uns verliefen, sodass keine Macht uns mehr nach Hause zurückbringen konnte, solange uns nicht einfiel, dass wir nur spielten. Und darauf zu kommen war beinahe unmöglich, so prickelnd und bezaubernd war dieses Spiel …
Ich weiß nicht, ob Musik »von etwas« handeln kann oder nicht, darüber wird seit Ewigkeiten gestritten. Das erste Gespräch zu diesem Thema, an das ich mich entsinne, fand zu Zeiten von Ying Zheng statt. Viele Jahrhunderte später, als ich einmal in Gestalt einer nihilistischen Studentin zu Lew Tolstoi nach Jasnaja Poljana kam, machte sich der Alte während des Abendessens über diese Idee lustig, insbesondere Beethoven war Zielscheibe seines Spottes: dass es unbedingt eine Mondscheinsonate hatte sein müssen! Kurzum, ich bestehe nicht darauf, dass die Flötenklänge meine Erinnerungen zum Inhalt hatten. Oder überhaupt einen Inhalt. Doch eines wusste ich: Mit dem Flötenspieler musste ich sprechen, und zwar sofort.
Dabei hätte ich mir sagen können, dass es besser war, in meinem Palankin sitzen zu bleiben. Hört man eine Flöte spielen, noch dazu schön, sollte man den Klängen lauschen und nicht die Gesellschaft des Flötisten suchen. Denn spricht man ihn an, so wird die Musik in diesem Moment aufhören. Und ob er einem wirklich etwas Interessantes zu sagen hat, steht dahin. Aber hintenheraus ist man immer schlauer. (Wir Werfüchse besonders – kraft unserer Anatomie …)
Überall war Nebel, die Leute saßen zu Hause, ein besonderes Risiko ging ich also nicht ein. Ich hüpfte aus der Sänfte und begab mich in die Richtung, aus der die Töne kamen; ab und zu blieb ich stehen und ging buchstäblich in die Knie vor der unvergleichlichen Schönheit dieses Abends. Solche hat es überhaupt nur bis ins achtzehnte Jahrhundert gegeben. Später, heißt es, habe sich die chemische Zusammensetzung der Luft verändert. Vielleicht hatte es auch schwerwiegendere Gründe.
Das Kloster bestand aus einer Vielzahl von Gebäuden, die sich um das große, schöne, sehr kostbar aussehende Haupttor drängten. Ein Zaun schloss sich an das Tor nicht an. Darin kam die Sektendoktrin allegorisch zum Ausdruck, wie gelehrte Mönche zu erläutern wussten: Das Tor symbolisiere den Weg, der dorthin führt, wo er beginnt, und das kann jeder beliebige Punkt sein. Ein Tor, das keines ist: vollkommene Offenheit, nach allen Seiten Raum, ein großes Leuchten. Selbst an die Hieroglyphen erinnere ich mich. Damals dachte ich, das Geld hätte für den Zaun nicht gereicht. Was durchaus sein kann: Hätten sich Spender gefunden, die Doktrin wäre womöglich geändert worden.
Das Flötenspiel kam aus dem Haupthaus, da wo sich der Saal der Übertragung der Lehre befand. Trotz aller Romantik, wie sie dem fliederfarbenen Nebel entstieg, wäre es mir normalerweise nicht eingefallen, einfach so meine Nase dort hineinzustecken – doch die Musik machte mich waghalsig.
Wer den Tiger fürchtet, sollte nicht in den Wald gehen!, dachte ich bei mir. Mag kommen, was will …
Ich raffte die Schöße meines Gewandes, um den Schweif für unliebsame Überraschungen in Bereitschaft zu halten, und lief los. Im alten China trug man bequeme weite Gewänder, von einer zufälligen Begegnung mit dem einen oder anderen stieläugigen Passanten ging also keine Gefahr aus – wahrscheinlich hätten sie mich in dem Nebel nicht einmal gesehen. Die Halluzinationen, die ich für solche Fälle in petto hatte, waren nicht sonderlich originelclass="underline" Sie zeigten die Welt, wie sie war, nur ohne die kleine A Huli.
Das kommt vor, dass mich einer sieht und die Augen ihm aus den Höhlen quellen beim Anblick meiner roten Pracht, und eine Sekunde später fragt er sich, was für eine Fata Morgana ihn da eben heimgesucht hat, denn da ist ja nichts außer dem nackten Feld, über das der Wind die dürren Blätter fegt … Es klingt simpel, ist aber in seiner Komplexität eine der avanciertesten Werfuchsnummern, und wenn einem mehr als drei Personen entgegenkommen, kann es schon heikel werden. Aus keinem anderen Grund übrigens war es seit der Qin-Dynastie in Kriegszeiten Vorschrift, eine mindestens vierköpfige Wache an die Festungstore zu stellen: Meine Schwestern waren gefürchtet, und das nicht umsonst.