Ein einziges Fenster im Haupthaus war erleuchtet. Genau dort spielte die Flöte, ein Irrtum war ausgeschlossen. Es handelte sich um ein Eckzimmer im ersten Stock, zu dem hinaufzugelangen nicht schwer schien: Man brauchte nur auf ein ziegelgedecktes Vordach zu springen und konnte auf ihm entlang die Front der dunklen Fenster passieren. Ich tat es leichtfüßig, ohne Mühe. An dem Fenster, hinter dem die Flöte spielte, waren die Läden hochgeklappt. Ich ging in die Hocke und lugte hinein.
Der Flötenspieler saß mit dem Rücken zu mir auf dem Boden. Er trug einen Kittel aus nachtblauer Seide und einen kleinen kegelförmigen Strohhut. Man sah, dass der Kopf darunter rasiert war, obwohl die Kleidung sonst nicht nach einem Mönch aussah. Seine Schultern waren breit, der Körper sehnig, leicht und offenbar kräftig – für so etwas habe ich ein Gespür. Auf dem Boden vor ihm sah ich eine Teeschale stehen, ein Tuschfass, daneben lag ein Stoß Papier. Zwei Öllämpchen brannten an der Wand.
Er wird kalligraphiert und als Ausgleich zur Flöte gegriffen haben, dachte ich mir … Bin gespannt, was ich zu ihm sage!
Ich hatte, ehrlich gesagt, keinen Plan. Nur vage Vorstellungen gingen mir im Kopf herum: zuerst vielleicht ein offenherziges Gespräch und hinterher blauer Dunst, anders kann man ja mit Menschen nicht. Obwohl ich mit etwas mehr Überlegung selbst hätte zu dem Schluss kommen können, dass es so nicht ging: Keiner führte mit mir ein offenherziges Gespräch, wenn er wüsste, dass hinterher doch nur blauer Dunst kommt. Und finge man an mit blauem Dunst, wie sollte das Herz dann noch aufgehen?
Doch mir blieb leider keine Zeit, darüber nachzudenken: Unten vor dem Haus tanzte Fackelschein, Schritte und Stimmen ertönten. Es waren an die zehn Mann – zu viele für eine Umerziehung im Handstreich. Ich zögerte keine Sekunde länger und hechtete zum Fenster hinein.
Mein Entschluss war, den Flötisten schnell in mein Garn zu locken und, wenn das Volk unten sich verlaufen hatte, zu meiner Sänfte zurückzukehren; zum Glück war es inzwischen schon beinahe ganz dunkel. Lautlos war ich auf allen vieren gelandet, richtete den Schweif auf und rief den Sitzenden leise von hinten an.
»Verehrter Herr!«
Gemessen legte er die Flöte auf dem Boden ab und wandte sich um. Ich straffte mein buschiges Organ, versammelte all meinen Geist in seiner obersten Spitze – und es geschah etwas, das völlig neu und überraschend für mich war: Anstatt auf wabbelnde, schmatzende Sülze, als die mein Schweif den menschlichen Geist wahrzunehmen gewohnt war (das kann keiner verstehen, der es nicht selbst schon erfahren hat), stieß ich hier auf … gar nichts.
Vielen Menschen war ich schon begegnet, beherzten ebenso wie bedripsten. Mit ihnen zu arbeiten war, als bohrte man Löcher in Wände. Zu bohren ging alles, man musste die Technik nur ein bisschen an das jeweilige Material anpassen. Hier aber fand ich überhaupt keine Wand vor. Nichts, was der Willenskraft, die in den knisternd unter Strom stehenden Grannen über meinem Kopf steckte, einen Angriffspunkt bot. Vor Überraschung verlor ich buchstäblich das Gleichgewicht und landete wie ein dummes Kind auf dem Hintern: Schweif eingeknickt, Beine unzüchtig abgespreizt. In diesem Moment fühlte ich mich wie ein Jongleur auf dem Marktplatz, dem sämtliche Kugeln und Bänder in den Matsch geklatscht sind.
»Sei gegrüßt, A Huli«, sprach der Mann und neigte den Kopf zu einem höflichen Gruß. »Ich freue mich, dass du ein Minütchen Zeit gefunden hast, bei mir hereinzuschauen. Du kannst mich übrigens Gelber Herr nennen.«
Gelber Herr!, dachte ich, während ich die Beine unterschlug: Das kommt bestimmt vom Gelben Berg, auf dem das Kloster steht. Falls er nicht vorhat, Kaiser zu werden …
»Nein«, sprach er lächelnd, »Kaiser möchte ich nicht werden. Aber mit dem Gelben Berg hast du richtig geraten.«
»Nanu. Habe ich etwa laut gedacht?«
»Deine Gedanken stehen dir so überdeutlich im Gesicht geschrieben, es bereitet keine Mühe, sie zu lesen«, sprach er und lachte.
Bestürzt verbarg ich das Gesicht hinter dem Ärmel. Dann aber fiel mir ein, dass in diesem Ärmel ein Riss war. Vollends beschämt, hielt ich den anderen Arm davor. Ich besaß damals ein sehr schönes Gewand, ererbt von des Kaisers Konkubine, nur eben nicht mehr ganz neu; hier und da klafften Löcher.
Natürlich war meine Scham gespielt. Tatsächlich suchte ich fieberhaft nach einem Ausweg, bedeckte mein Gesicht nur, damit er meine Gedanken nicht weiterlas. Dass ich mich von einem einzelnen Menschen aufs Kreuz legen ließ, durfte einfach nicht sein. Ich kam bei ihm an keinen Geist heran – was nicht heißen musste, dass da keiner war. Vermutlich kannte er irgendeinen gemeinen Zaubertrick … Ob er sich an anderer Stelle zeigte, als er in Wirklichkeit war? Von so etwas hatte ich schon gehört … Doch er war nicht der Einzige, der Tricks auf Lager hatte.
Werfüchse beherrschen eine Methode, mittels derer man Halluzinationen rundum, in alle Richtungen zugleich ausschicken kann und dabei jeden menschlichen Willen augenblicklich lähmt. Wir fokussieren dabei nicht auf den konkreten Kunden, sondern werden gewissermaßen zu einem großen, schweren Stein, der auf die Oberfläche des Hier und Jetzt aufschlägt und konzentrische Wellen schlägt, die des Menschen Geist trüben, sodass er, vollkommen desorientiert, nach dem ersten sich bietenden Strohhalm greift. Drücke ich mich verständlich aus? Gewitter über dem Himmelspalast heißt diese Technik.
Ich brachte sie unverzüglich zum Einsatz. Sprang auf alle viere, schlug das Gewand zurück und schüttelte wütend den Schweif über meinem Kopf. Hierbei gilt es nicht nur die Spitze zu schütteln, sondern ebenso den Schweifansatz, was dem ganzen eine zweideutige, wenn nicht eindeutig obszöne Note gibt, besonders wenn der Kittel auch noch Löcher hat. Doch fällt es uns Werfüchsen hierbei nicht allzu schwer, die angeborene Schamhaftigkeit zu überwinden, da der Mensch sowieso nicht dazu kommt, auch nur das Geringste zu sehen.
Der normale Mensch, muss ich einschränken. Der Gelbe Herr sah nicht nur alles, er lachte auch noch aus vollem Halse, was überaus kränkend war.
»Du bist ja eine ganz Hübsche!«, sagte er. »Aber vergiss nicht, dass ich Mönch bin.«
Ich mochte noch nicht aufgeben. Steigerte die Willensanspannung bis zum Äußersten – worauf er, mit einer gequälten Grimasse wie von Kopfschmerz, seinen Hut abnahm und in meine Richtung schleuderte. Der Hut verfing sich mit dem schwarzen Schnürband in meinem Schweif und drückte ihn urplötzlich zu Boden – als wäre es kein Kegel von trocken Stroh, sondern ein schwerer Mühlstein.
Hierauf hob der Gelbe Herr zwei mit Hieroglyphen bemalte Blätter auf, rollte sie zusammen und warf sie gleichfalls in meine Richtung. Bevor ich auch nur einen Gedanken fassen konnte, klammerten sie meine Handgelenke wie eiserne Krampe am Boden fest. Ich versuchte, eine der Rollen mit den Zähnen wegzuzerren (man erinnere sich: bei heftigem Erschrecken widerfährt uns das Gleiche wie auf der Hühnerjagd, unser menschliches Antlitz zieht sich in die Länge, wird in Sekundenschnelle zum scharfzähnigen Schnäuzchen), doch es ging nicht. Zauberei, ganz ohne Frage. Einige der Hieroglyphen auf dem Papier konnte ich entziffern: Es gibt kein Alter, keinen Tod, hieß es da, und kein Entkommen vor ihnen …
Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn dies war das buddhistische Herz-Sutra – es konnte also kein Füchse jagender Dao-Zauberer sein, der da vor mir stand. Alles konnte noch gut werden. Ich hörte auf zu zappeln.
Der Gelbe Herr hob die Teeschale zum Mund und trank einen Schluck, wobei er mich betrachtete wie ein Maler sein kurz vor der Vollendung stehendes Bild: darüber nachsinnend, wo noch ein letzter Pinselstrich angebracht wäre. Ich begriff, dass ich mit unzüchtig entblößtem Unterleib vor ihm auf dem Rücken lag. So viel Erniedrigung trieb mir die Schamröte ins Gesicht. Zugleich packte mich die Angst. Wer konnte wissen, was dieser Magier als Nächstes im Sinn hatte? Das Leben kann furchtbar sein und gnadenlos. Manchmal, wenn es den Menschen gelingt, eine von unseren Schwestern zu fangen, tun sie Dinge mit ihr, an die man lieber gar nicht denken möchte.