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»Ich warne Euch«, sagte ich mit brüchiger Stimme, »solltet Ihr vorhaben, mit meiner Jungfräulichkeit Schindluder zu treiben … Himmel und Erde würden von dieser Schandtat erbeben! Die Ruhe Eures Alters wäre ein für alle Mal dahin!«

Er lachte so herzlich, dass ihm der Tee aus der Schale schwappte. Die Scham wurde unerträglich, ich wandte den Kopf ab, und wieder fielen mir die Hieroglyphen auf dem Papier ins Auge, das meine Hand am Boden festhielt. Diesmal war es das andere Blatt, mit anderen Zeichen: Kein Haften, kein Festhalten … Weisheit, die über alles hinausführt …

»Wollen wir uns unterhalten?«, fragte der Gelbe Herr.

»Ich bin kein Animiermädchen aus dem Freudenhaus, dass ich mit geschürztem Rock Gespräche führe«, sagte ich.

»Du hast ihn doch selber geschürzt«, erwiderte er ungerührt.

»Mag sein. Aber herablassen kann ich ihn im Moment leider nicht von allein.«

»Versprichst du mir, nicht wegzulaufen?«

Ich ließ den Anschein eines quälenden inneren Kampfes über mein Gesicht gehen. Seufzte und sprach: »Gut. Ich verspreche es.«

Der Gelbe Herr murmelte leise den letzten Satz aus dem Herz-Sutra, und zwar auf Chinesisch. Alle gelehrten Männer, die ich bis dahin kannte, waren der Meinung gewesen, man dürfe dieses Sutra nur auf Sanskrit aufsagen, weil die Stimme des Siegreichen es so das erste Mal ausgesprochen habe. Theorie hin, Theorie her, die Fesseln um meine Handgelenke lösten sich augenblicklich und waren nun wieder zwei zerknitterte Rollen Papier.

Ich richtete den Saum meines Gewands, setzte mich in würdevolle Positur und sagte: »Das ist ja erbaulich! Der Herr benutzt ein und dasselbe Sutra einmal als Schloss und einmal als Schlüssel. Oder soll man es so verstehen, dass dieses Mantra, wie von Buddha verheißen, tatsächlich von jeglichem Leiden befreit?«

»Hast du das Herz-Sutra gelesen?«, fragte er.

»Stellenweise«, antwortete ich. »Form ist Leere, Leere ist Form …«

»Dann weißt du vielleicht sogar, was diese Worte bedeuten?«

Ich schätzte die Entfernung zum Fenster ab. Zwei Sprünge bis dorthin. Und wenn er der Leibwächter des Kaisers wäre! so mein Gedanke. Mich hält er hier um keinen Preis!

»Natürlich weiß ich das«, gab ich zurück, während sich mein Leib zur Feder spannte. »Hier zum Beispiel sitzt vor Euch der Werfuchs A Huli. Erscheint wie echt, hat eine Form. Doch bei näherem Hinschauen zeigt sich vor Euch keine A Huli, sondern gähnende Leere!«

Mit diesen Worten sprang ich auf das schwarze Quadrat der Freiheit zu, in dem schon die ersten Sterne leuchteten.

Vorauseilend möchte ich sagen, dass diese Erfahrung mir später geholfen hat, Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat zu verstehen. Nur ein paar winzige bläulich-weiße Punkte hätte ich an des Meisters Stelle dem Bild noch hinzugefügt. Doch Malewitsch, wiewohl er sich Suprematist nannte, hielt sich an die Wahrheit des Lebens: Am Himmel über Russland ist nun einmal selten Licht. Und der Seele bleibt nichts weiter übrig, als unsichtbare Sterne aus sich selbst hervorzuzaubern – so die Botschaft des Bildes. Der Gedanke kam mir allerdings erst viele Jahrhunderte später. In dieser Sekunde ging ich einfach zu Boden – aus einem unerträglichen, mit nichts zu vergleichenden Gefühl der Scham heraus. Ich fühlte mich so schlecht, dass ich nicht einmal schreien konnte.

Der Gelbe Herr hatte mir die Fesseln von den Händen gelöst. Das Fenster war ganz nahe. Doch den Hut, der meinen Schweif zu Boden drückte, den hatte ich schlicht vergessen.

Kein physischer Schmerz, nicht einmal ein seelischer, ließe sich vergleichen mit dem, was ich hier erlitt. Alles, was ein Einsiedler in jahrelanger Buße durchmacht, passte in eine Sekunde dieses Gefühls, es war von nie dagewesener Intensität, fuhr wie ein Blitzschlag hinein in die dunkelsten Winkel meiner Seele. Ich sank zu Boden wie eine Handvoll Staub, Tränenströme stürzten mir aus den Augen. Vor meiner Nase lag eines der zerknitterten Blätter mit dem Herz-Sutra, die Zeichen blickten mich gleichmütig an: Ich, meine verunglückte Flucht, die unaussprechlichen Qualen, die ich in dieser Sekunde über mich ergehen ließ – alles nur leerer Schein, wollten sie besagen.

Der Gelbe Herr lachte nicht mehr, blickte auf mich sogar mit einem gewissen Mitgefühl, doch ich spürte, er konnte sich das Lachen gerade so verbeißen. Was mein Selbstmitleid nur noch steigerte, ich heulte Rotz und Wasser, von dem die Hieroglyphen vor meiner Nase zu formlosen schwarzen Klecksen zerflossen.

»Tut es so weh?«, fragte der Gelbe Herr.

»Nein«, stieß ich unter Tränen hervor, »ich … ich …«

»Was ist mit dir?«

»Ich … bin es nicht gewohnt, mit Menschen offen zu reden.«

»Bei deiner Erwerbstätigkeit kein Wunder!«, sagte er lächelnd. »Aber sag schon, warum weinst du?«

»Ich schäme mich«, flüsterte ich.

Mir war so elend, dass an irgendwelche Tricks nicht mehr zu denken war. Die Anteilnahme, die der Gelbe Herr mir entgegenbrachte, kam mir unangemessen vor, immerhin wusste ich genau, was mir für all meine Taten gebührte. Wäre er darangegangen, mir das Fell bei lebendigem Leib über die Ohren zu ziehen, ich hätte wohl nicht viel dagegen unternommen.

»Wofür schämst du dich?«

»Für alles, was ich begangen habe … Ich habe Angst.«

»Wovor?«

»Dass die Rachegeister mich in die Hölle schicken«, sprach ich so leise, dass man es kaum hören konnte.

Dies war nicht geflunkert. Unter den Visionen, die gerade vor meinem inneren Auge vorübergezogen waren, fand sich diese: In einem Eisloch drehte sich ein schwarzes Rad und wickelte meinen Schweif auf, zerrte ihn aus mir hervor, der Schweif riss nicht ab, er wurde lang und länger, zog sich wie der Spinnfaden aus dem Spinnenbauch, und jede Sekunde in diesem Alptraum bereitete mir unsägliche Pein. Am schrecklichsten aber war die Gewissheit, dass es nie, nie enden würde … Grässlicheres kann sich kein Werfuchs ausdenken.

»Glauben Werfüchse denn an Vergeltung?«, fragte der Gelbe Herr.

»Ob wir dran glauben oder nicht, tut nichts dazu. Die Vergeltung ereilt uns jedes Mal, wenn wir kräftig am Schweif gezogen werden.«

»So ist das also«, sagte er nachdenklich. »Ich hätte sie damals nur am Schweif ziehen müssen …«

»Wen?«

»Ach, vor Jahren kam manchmal ein äußerst pfiffiger Werfuchs aus der Hauptstadt hierher, um Vergebung für seine Sünden zu erbeten. Im Unterschied zu dir fürchtete das Mädchen die Hölle kein bisschen – im Gegenteil, sie suchte mir zu beweisen, dass sowieso alle dorthin kommen. Ihr Gedanke war der, dass, selbst wenn Menschen mitunter Güte zeigen, die irdische Barmherzigkeit von der himmlischen weit übertroffen wird! Es sei völlig klar, dass der Oberste Ahn ausnahmslos allen vergebe und sie geradenwegs ins Paradies schicke. Denn die Menschen machen das Paradies sowieso zur Hölle – so wie vorher die Erde …«

Meine Neugier ist normalerweise unbezähmbar, doch in diesem Augenblick ging es mir so mies, dass ich nicht nachfragte, wer dieser Werwolf aus der Hauptstadt gewesen war. Das Argument kam mir jedenfalls einleuchtend vor. »Heißt das, es ist alles vollkommen hoffnungslos?«, flüsterte ich, meine Tränen hinunterschluckend.

Der Gelbe Herr zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht. Gegen das Wissen, dass alles eine Ausgeburt des Geistes ist, kommt die ärgste Hölle nicht an«, sagte er.

»Das Wissen ist das eine«, erwiderte ich. »Ich habe die heiligen Bücher gelesen und kenne mich ziemlich gut darin aus. Doch ich vermute, dass die Bosheit in meinem Herzen sitzt. Und ein böses Herz, da hat der Werfuchs aus der Hauptstadt ganz recht, ein böses Herz schafft unweigerlich eine Hölle um sich herum. Ganz gleich, wo es sich gerade befindet.«