»Hättest du ein böses Herz, wärest du nicht den Klängen meiner Flöte gefolgt. Dein Herz ist nicht böse. Es ist nur schlau – wie bei allen Werfüchsen.«
»Und ist einem schlauen Herzen zu helfen?«
»Man sagt, bei redlichem Lebenswandel lässt sich ein schlaues Herz in drei Kalpas heilen.«
»In drei was?«
»Ein Kalpa ist die Zeit, die zwischen der Entstehung eines Universums und seinem Untergang verstreicht.«
»Aber so lange Zeit lebt kein Werfuchs!«, sagte ich.
»Das ist wahr. Ein schlaues Herz kuriert sich nicht so leicht, es lässt sich schwer überzeugen, dass es moralischen Prinzipien folgen muss. Gerade weil es schlau ist, wird es einen Weg finden, diese Prinzipien zu umgehen und allen ein Schnippchen zu schlagen. Im Laufe von drei Kalpas wird es vielleicht einsehen, dass es sich dabei nur selbst etwas vormacht.«
»Und die Sache lässt sich durch nichts beschleunigen?«
»Unter Umständen schon«, erwiderte er. »Für den, der unbedingt will und entschlossen genug ist, gäbe es einen Weg.«
»Und der wäre?«
»Buddha hat eine Menge verschiedener Lehren vorgegeben. Darunter solche für Menschen, für Geister, sogar für Götter, die nicht gestürzt werden wollen. Eine Lehre für auf Erden wandelnde Zauberfüchse gibt es auch. Doch wirst du ihr trauen, wenn ein Mensch dir von ihr kündet?«
Ich nahm die ehrerbietigste Pose ein, die mir zur Verfügung stand, und sagte: »Ich begegne den Menschen mit Hochachtung, glaubt mir! Wenn ich mich hin und wieder dazu hinreißen lasse, etwas von ihrer Lebenskraft abzuzweigen, so ist das meine Natur, gegen die ich nichts ausrichten kann. Anders wüsste ich für meinen Lebensunterhalt auch nicht zu sorgen.«
»Gut«, sprach der Gelbe Herr. »Ein glücklicher Zufall will es, dass ich in die geheime Lehre für unsterbliche Werfüchse eingeweiht bin, und ich bin bereit, sie an dich zu übertragen. Besser gesagt, ich bin verpflichtet dazu. Denn bald werde ich diese Welt verlassen, und es wäre schade, wenn diese vorzügliche Kenntnis mit mir abhanden käme. Noch einen Werfuchs werde ich bis dahin wohl kaum treffen.«
»Was ist mit Euerm Gast aus der Hauptstadt? Warum habt Ihr die Lehre nicht schon an ihn übertragen?«
»I Huli ist nicht geeignet dafür«, beschied er.
Sie also! Begab sich klammheimlich hierher, um ihre Sünden wegzubeten. Während sie nach außen hin bestritt, dass es so etwas wie Sünden überhaupt gab.
»Warum sollte meine Schwester I Huli nicht geeignet sein?«, fragte ich. »Ihr erwähntet doch selbst, dass sie hier erscheint, um ihre Taten zu bereuen.«
»Sie ist viel zu durchtrieben. Zeigt immer nur dann Reue, wenn sie eine ganz üble Missetat plant. Dann sucht sie ihre Seele zu erleichtern, damit wieder mehr Bosheit hineingeht.«
»Dazu wäre ich genauso fähig«, gab ich zu.
»Ich weiß«, sprach der Gelbe Herr. »Doch du wirst immer dessen eingedenk sein, dass du ein Verbrechen begehst. Falsche Reue würde bei dir gar nicht funktionieren. I Huli hingegen kann, während sie ihre nächste Untat plant, die vorige so inbrünstig bereuen, dass ihr die Seele davon tatsächlich leichter wird. Sie ist viel zu schlau, um irgendwann in den Regenbogenstrom einzugehen.«
Die letzten Worte sprach er besonders feierlich.
»Wohin einzugehen?«, fragte ich nach.
»In den Regenbogenstrom«, wiederholte er das schillernde Wort.
»Was ist das?«
»Du sagst, du hättest die heiligen Bücher gelesen. Dann müsstest du wissen, dass das Leben ein Spaziergang durch einen Garten illusionärer Formen ist, die nur jenem Geist real erscheinen, der seine wahre Natur noch nicht erkannt hat. Der Verstand kann sich in die Welt der Götter ebenso verlaufen wie in die Welt der Dämonen, die Menschenwelt, die Tierwelt, die Welt der hungrigen Geister und in die Hölle. Beim Durchschreiten all dieser Welten haben die Siegreichen den Bewohnern Lehren hinterlassen, wie man sich von Toden und Geburten befreit …«
»Pardon«, unterbrach ich ihn, da ich eine Möglichkeit sah, ihm meine Gelehrsamkeit unter Beweis zu stellen, »in den Sutren heißt es aber doch, eines Menschen Geburt sei das Wertvollste, was es gibt, denn nur ein Mensch sei imstande, seine Befreiung zu erwirken. Stimmt das nicht?«
Der Gelbe Herr lächelte.
»Den Menschen würde ich das Geheimnis nicht verraten, aber du als Werfuchs solltest es wissen: Man bekommt in allen Welten dasselbe erzählt. In der Hölle behaupten sie, nur ein Höllenbewohner sei in der Lage, sich von allem zu befreien, da die Geschöpfe in den übrigen Welten ihr Leben auf der Jagd nach Annehmlichkeiten verbrächten, die in der Hölle eher seltener vorkommen. In der Welt der Götter wiederum heißt es, nur Götter könnten die Befreiung erlangen, denn für sie sei der Sprung in die Freiheit am kürzesten und die Furcht vor dem Absturz in die Unterwelt am größten. In jeder Welt bekommt man zu hören, sie sei die geeignetste, um Erlösung zu finden.«
»Und wie ist es bei den Tieren? Dort wird einem das vermutlich nicht gesagt?«
»Nein, ich spreche von Welten, deren Bewohner ein Erlösungskonzept haben. Dort, wo es kein solches Konzept gibt, muss logischerweise auch niemand erlöst werden.«
Sieh an, dachte ich. Schlau wie ein Fuchs.
»Und diese Erlösung, von der Ihr sprecht – ist sie in allen Welten dieselbe oder überall verschieden?«
»Für die Menschen bedeutet Befreiung, ins Nirwana abzuwandern. Für die Höllenbewohner, im lila Rauch aufzugehen. Für die Asura-Dämonen, das Schwert der Leere zu erobern. Für die Götter, mit dem Diamantglanz zu verschmelzen. Betrachtet man die Form, so ist die Erlösung in jeder dieser Welten unterschiedlich. Doch dem innersten Wesen nach ist sie überall gleich, insofern die Konstitution des Geistes, der all diese Welten imaginiert, sich niemals ändert.«
»Und was lässt sich über die Werfüchse sagen?«
»Formell gesehen, gehören Werwesen in keine der sechs erwähnten Kategorien. Ihr seid ein Sonderfall. Es besteht die Meinung, hin und wieder werde ein in die Welt der Dämonen hineingeborener Geist von deren Grausamkeit abgestoßen und verziehe sich an ihre Ränder, dahin, wo die dämonische Realität an die Welt der Menschen und die der Tiere grenzt. Solch ein Wesen gehört keiner der genannten Welten richtig an, es wechselt zwischen allen dreien – Menschen, Tieren und Dämonen – hin und her. Werfüchse sind Wesen ebendieser Kategorie.«
»So ist es«, sagte ich betrübt, »wir sitzen zwischen drei Stühlen, weil das Leben uns graust. Seht Ihr denn für uns einen Ausweg?«
»Ja. Einst wurden Buddha und seine Schüler von einem Werfuchs auf das Feinste bewirtet, wobei der Gastgeber allerdings nicht ganz uneigennützig handelte, er hatte es auf die Schüler abgesehen. Doch Buddha war sehr hungrig gewesen und seine Dankbarkeit groß, er belohnte den Werfuchs mit einer Lehre, die seinesgleichen die Befreiung während eines Lebens ermöglicht – wobei man berücksichtigen muss, dass Werwesen bis zu vierzigtausend Jahre alt werden. Buddha hatte nicht viel Zeit, darum ist es eine kurze Lehre geworden. Doch da der Siegreiche in Person sie erschuf, hat sie trotz allem magische Wirkung. Wenn du, A Huli, sie befolgst, kannst du nicht nur dich selbst erlösen, sondern sämtlichen auf der Erde wohnenden Werwesen den Weg zur Befreiung weisen.«
Vor Aufregung wurde mir schwindlig. Von so etwas hatte ich mein Leben lang geträumt.
»Was beinhaltet diese Lehre?«, fragte ich im Flüsterton.
»Sie spricht vom Regenbogenstrom«, antwortete der Gelbe Herr ebenso flüsternd. Mir schien, er äffte mich nach, doch ich war ihm nicht böse.
»Ach ja, der Regenbogenstrom – was ist das nun genau?«, fragte ich mit normaler Stimme.
»Der letzte Hafen des Überwerwesens.«
»Und was ist ein Überwerwesen?«
»Das ist jenes Werwesen, dem es gelingt, in den Regenbogenstrom einzugehen.«