»Die Welt um uns her«, sagte ich. »Du kannst doch Farben sehen, nicht? Blau, rot, grün? Sie entstehen und vergehen in deinem Geist. Das ist er, der Regenbogenstrom! Und ein jeder von uns ist in ihm das Überwerwesen.«
»Das hieße, wir sind schon drin?«
»Ja und nein. Einerseits ist das Überwerwesen von Anfang an im Regenbogenstrom. Andererseits wird es niemals dort eingehen können, denn der Regenbogenstrom ist eine Illusion. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch – du und die Welt, ihr seid ohnehin eins.«
»Aha«, sagte er. »Wer hätte das gedacht. Na gut, weiter.«
»Das Überwerwesen ist ein Himmelswesen. Ein Himmelswesen verliert zum Himmel niemals den Kontakt.«
»Was bedeutet das?«
»In dieser Welt ist alles Sand und Staub. Ein Himmelswesen denkt an das Licht, das den Staub sichtbar macht. Wohingegen der schwanzlose Affe sich und den anderen Sand in die Augen streut. Stirbt ein Himmelswesen, wird es folglich zu Licht. Stirbt ein schwanzloser Affe, wird er zu Staub.«
»Licht, Staub, ich weiß nicht«, entgegnete Alexander. »Da ist doch wohl noch ein bisschen mehr! So was wie Persönlichkeit. Du zum Beispiel hast sie ganz bestimmt, Füchslein. Fällt mir in letzter Zeit besonders auf … Willst du das bestreiten?«
»Diese Persönlichkeit mit all ihren Macken und Extravaganzen tanzt und springt wie ein Puppe im klaren Licht meines Geistes. Und je dümmer die Macken, desto strahlender das Licht, das ich immer wieder neu erfahre.«
»Jetzt sagst du selbst: mein Geist. Eben hast doch noch behauptet, es wäre nicht deiner.«
»So ist Sprache nun einmal beschaffen. Es ist die Wurzel, aus der die menschliche Beschränktheit in den Himmel wächst. Wir Werwesen haben darunter auch zu leiden, denn wir reden ja immerzu. Man kann gar nicht den Mund aufmachen, ohne zu irren. Es lohnt darum nicht, an den Wörtern herumzuklauben.«
»Na schön: Aber diese tanzende Puppe Persönlichkeit – das bist doch du?«
»Nein, das bin ich nicht. Ich fühle mich mit dieser Persönlichkeit nicht eins, ich bin durchaus keine Puppe. Ich bin das Licht, das die Puppe sichtbar macht. Aber Licht und Puppe sind auch nur Vergleiche, halte dich bitte nicht daran fest.«
»Hut ab, Füchslein«, sagte er, »das hast du alles fein gründlich ausklamüsert … Aber nun sag doch endlich mal, wie alt du eigentlich bist?«
»Alt genug«, sagte ich und wurde rot. »Das mit dem Hund und dem Löwen nimm mir bitte nicht krumm. Es ist eine klassische Allegorie, wirklich uralt, glaub mir. Der Hund schaut auf den Stock, der Löwe auf den Werfer. Wenn man das begriffen hat, lassen sich übrigens auch unsere Zeitungen viel leichter lesen …«
»Das mit dem Hund und dem Löwen hatte ich begriffen, aber vielen Dank für die Wiederholung«, erwiderte er sarkastisch. »Und über die Presse weiß ich auch ohne dich Bescheid. Sag mir lieber, wo die Werfüchse hinschauen?«
Ich lächelte ertappt.
»Wir Werfüchse schauen mit einem Auge auf den Stock, mit dem anderen auf den Werfer. Denn wir sind zarte Geschöpfe, und außer dass wir an unserer Selbstvervollkommnung arbeiten, hängen wir auch an unserem bisschen Leben. Darum haben wir diesen Silberblick …«
»Ich werd dir zum Test mal paar Knüppel vor die Füße werfen müssen …«
»Gut gebrüllt, Löwe!«
Alexander kratzte sich das Kinn. »Ich frage mich nur noch: Wo ist bei alledem der Punkt?«
»Der Punkt?«
»Na ja. Wo soll man den Daumen draufhalten, meine ich? Damit man was davon hat?«
»Den Daumen draufhalten … Tja. Das ist schwierig.«
»Wieso?«
»Wo nimmt man so schnell einen Daumen her …«
»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte er. »Und ich bin mir gar nicht sicher, ob mir das alles zusagt.«
»Was passt dir denn nicht?«
»Regenbogenstrom, Überwerwesen – alles schön und gut. Das mit dem Daumen können wir auch abhaken. Aber ich verstehe die Hauptsache noch nicht. Wer verzapft das alles? Wer hat das in der Hand? Der liebe Gott?«
»Wir selbst«, entgegnete ich. »Wir verzapfen doch auch den lieben Gott.«
»Jetzt schwindelst du aber, Füchslein«, lachte er. »Den lieben Gott musst du nicht auch noch verzapfen. Wie denn? Mit dem Schweif oder was?«
Ich saß wie vom Donner gerührt.
Diese Sekunde entzieht sich jeder Beschreibung. Die Geistesblitze und Spekulationen der zurückliegenden Monate, mein chaotisches Denken, die Vorahnungen – plötzlich ergab sich aus alledem ein sonnenklares Bild der Wahrheit. Zwar konnte ich die Folgen meiner Erleuchtung in diesem Moment nicht absehen, doch dass das Geheimnis jetzt in meiner Hand war, wusste ich sofort. Mir schwindelte. Vermutlich war ich totenbleich.
»Was hast du?«, fragte er. »Ist dir nicht gut?«
»Doch, doch«, sagte ich und gab mir Mühe zu lächeln. »Ich müsste nur einmal einen Moment für mich allein sein. Am besten jetzt gleich. Bitte nicht stören! Es ist sehr, sehr wichtig.«
Die Welt ist rätselhaft und unergründlich. Um die Frösche vor der Grausamkeit der Kinder zu bewahren, erzählen die Erwachsenen, dass man Frösche nicht töten darf, weil sonst Regen kommt – mit dem Ergebnis, dass es den ganzen Sommer lang regnet, weil die Kinder einen Frosch nach dem anderen platt machen. Manchmal wiederum geschieht es, dass man sich ein Bein ausreißt, um jemandem die Wahrheit zu verklickern – und plötzlich versteht man sie selbst.
Letzteres ist für Werfüchse übrigens weniger die Ausnahme als die Regel. Dass wir, wenn wir etwas nicht verstehen, es am besten den anderen erklären, sagte ich schon. Es hängt mit den Eigenarten unseres Verstandes zusammen, der so angelegt ist, dass er menschliche Persönlichkeiten simulieren kann und in jeder Kultur zur Mimikry befähigt ist. Einfacher gesagt: Unser Wesen liegt in der permanenten Verstellung. Wenn wir jemandem etwas erklären, tun wir so, als hätten wir es bereits verstanden. Und da wir von Natur aus ziemlich helle sind, macht es bei uns früher oder später tatsächlich klick! – trotz aller Ausweichmanöver. Die Silberhärchen in unserem Schweif kommen angeblich davon.
Wenn ich mich verstelle, wirke ich stets sehr natürlich. Darum verstelle ich mich eigentlich immer, weil das viel glaubhafter rüberkommt, als wenn ich mir plötzlich Mühe gäbe, authentisch zu sein. Und was heißt schon authentisch! Soll wohl heißen, dass man sein Wesen im Verhalten unmittelbar zum Ausdruck bringt. Liegt aber nun mein Wesen in der Verstellung, heißt das, für mich führt der einzige Weg zur Authentizität über die Heuchelei. Womit ich nicht sagen will, dass ich mich nie ungezwungen benähme, im Gegenteiclass="underline" Meine Ungezwungenheit ist so aufrichtig geheuchelt, wie ich es nur vermag. Aber ich merke, die Wörter führen mich schon wieder aufs Glatteis: Ich spreche von ganz einfachen Dingen, und dabei kommt es so an, als wäre ich ein Trickbetrüger, und alles hätte bei mir einen doppelten Boden. Das stimmt nicht. Es hat überhaupt keinen Boden.
Weil die Verstellungskünste eines Werfuchses grenzenlos sind, erkennt er auch die absolute Wahrheit in dem Moment, wo er so tut, als hätte er sie erkannt. Am besten geschieht das im Gespräch mit einem weniger gereiften Gesprächspartner. Doch hatte ich hier, während ich mit Alexander redete, überhaupt nicht an mich gedacht. Ihm wollte ich auf die Sprünge helfen und strengte mich richtig an. Und am Ende zeigte sich, dass er mir geholfen hatte. Welch ein erstaunliches, unbegreifliches Paradoxon … Es ist das Grundgesetz unseres Lebens.
Ich hatte mich der Wahrheit schrittweise genähert.
1. hatte ich Alexander beobachtet und dabei erkannt, dass ein Werwolf Selbsthypnose betreibt. Der Werwolf suggeriert sich selbst die Verwandlung in einen Wolf, worauf er sich tatsächlich in ihn verwandelt.
2. war mir während der Hühnerjagd aufgefallen, dass auch mein Schweif auf mich einen Einfluss ausübte. Was ich mir suggerierte, war mir da aber noch nicht klar. Ich vermutete eine Art Rückkopplung, die für die Verwandlung zum Werfuchs sorgt. Hiermit war ich zwei Schritte von der Wahrheit entfernt und vermochte sie doch nicht zu sehen.