3. gelangte ich Alexander gegenüber im Zuge meiner Aufklärungsversuche zu der Formulierung, er und die Welt seien eins. Nun hatte ich alles für die endgültige Erleuchtung beisammen. Doch Alexander musste die Dinge erst beim Namen nennen, damit ich die ganze Wahrheit begriff.
Die Welt und ich sind eins. Was also spiegelt mein Schweif mir vor? Dass ich ein Werfuchs bin? O nein! ging mir auf im Sekundenblitz der Erkenntnis: Mit ihm mache ich mir die Welt im Ganzen weis!
Allein im Raum zurückgeblieben, sank ich in den Lotossitz und meditierte. Wie viel Zeit darüber verging, weiß ich nicht – ein paar Tage werden es gewesen sein. In diesem Zustand gibt es zwischen einem Tag und einer Stunde nicht viel Unterschied.
Nun, da ich zum Wesentlichen vorgedrungen war, wusste ich auch, warum mir dieser Uroboros (nicht umsonst hatte ich das Wort ständig im Munde geführt!) nicht früher aufgefallen war. Ich hatte die Wahrheit nicht gesehen, wie man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht! Der Hypnosestrom, den der Schweif an mein Bewusstsein sandte, enthielt die ganze Welt. Genauer: Dieser Strom war das, was ich als die Welt ansah.
Ich hatte schon immer den Verdacht, dass Stephen Hawking nicht weiß, was das Wort Reliktstrahlung (es steht bei ihm auf jeder zweiten Seite) eigentlich meint. Es ist kein Funksignal, das man mit Hilfe einer aufwendigen, teuren Apparatur empfangen könnte. Reliktstrahlung – das ist die Welt, so wie wir sie sehen, ganz gleich, wer wir sind, ob Werwesen oder Menschen.
Jetzt wo ich wusste, wie ich die Erschaffung der Welt bewerkstelligte, hätte ich diesen Effekt natürlich gern ein wenig zu steuern gelernt. Doch so sehr ich meinen Geist auch zusammennahm, es kam nichts dabei heraus. Alle mir bekannten Techniken probierte ich aus: von den schamanischen Visualisierungen, wie die Wilden im hohen Tibet sie praktizieren, bis zum verborgenen Feuer im mikrokosmischen Orbit, das die Daoisten anwenden. Alles umsonst – es glich dem Versuch, einen Berg zu verrücken, indem man sich mit der Schulter dagegenstemmte.
Da aber fiel mir der Schlüssel ein. Natürlich, der Gelbe Herr hatte von einem Schlüssel gesprochen … Ich hatte immer eine Metapher darin gesehen, die besagte, dass man das Wesen der Dinge richtig oder falsch verstehen konnte. Doch wenn ich beim Eigentlichen ein so dickes Brett vor dem Kopf (beziehungsweise Schweif) gehabt hatte, konnte es hier ebenso sein. Wie also ließ sich dieser Schlüssel verstehen? Ich hatte keine Idee. Tappte ich womöglich immer noch ganz im Dunkeln?
Meine Konzentration schwand, die Gedanken fingen an zu schweifen. Ich dachte an Alexander, der geduldig nebenan wartete – die ganze Zeit meiner Meditation über hatte er nicht einen Ton von sich gegeben, um meinen Frieden nicht zu stören. Wie immer rief der Gedanke an ihn eine heftige Welle der Zuneigung in mir hervor.
Und so kam es, dass mir zu guter Letzt doch noch das Wichtigste vom Wichtigsten aufging:
1. Nichts war in mir, was stärker war als diese Liebe. Und da aus mir und meinem Schweif die ganze Welt erstand, konnte das nur heißen: Nichts Stärkeres gab es auf der Welt.
2. In dem Strom von Energie, den mein Schweif aussandte und den mein Geist als Welt ansah, kam Liebe nicht vor – das führte zu dem Erscheinungsbild der Welt, wie ich es vor mir hatte.
3. Die Liebe war somit der Schlüssel, den ich so lange nicht hatte finden können.
Warum hatte ich das nicht gleich gesehen? Die Liebe war die einzige Kraft, die die vom Schweif kommende Reliktstrahlung aus meinem Bewusstsein herauskicken konnte. Ich konzentrierte mich also von neuem, visualisierte meine Liebe in Form eines helllodernden Herzchens und senkte es behutsam gegen den Schweif. Führte es bis fast ganz hinunter an die Wurzel. Und da …
Etwas Außerordentliches geschah. In meinem Kopf, irgendwo zwischen den Augen, entstand ein Regenbogenschillern und breitete sich aus. Ich nahm es nicht mit dem physischen Gesichtssinn wahr, es erschien eher wie ein Traum, den ins Wachsein herüberzuschmuggeln mir geglückt war. Dieses Schillern kannte ich von Flussläufen im Frühlingssonnenlicht. Es blinkte darin in allen Farben. Und in dieses liebliche Licht konnte man hineingehen … Damit das Regenbogenschillern den ganzen Raum ringsumher flutete, musste ich den Feuerball der Liebe noch tiefer senken, noch hinter die Große Grenze, die sich beim Werfuchs in drei Zoll Entfernung von der Schweifwurzel befindet. Das ließ sich machen. Doch ahnte ich, in all den Strömen von Regenbogenlicht würde die winzige Stadt mit dem dort verbliebenen Alexander nachher nicht mehr wiederzufinden sein. Nein, wir sollten gemeinsam von hier aufbrechen, dachte ich. Was wäre unsere Liebe sonst wert gewesen? Und er war es doch, der mir den Schlüssel zum neuen Universum in die Hand gegeben hatte – ohne es zu wissen …
Ich beschloss, ihm sofort davon zu berichten. Aufzustehen war allerdings gar nicht so einfach – nach der langen Zeit im Lotossitz waren meine Beine eingeschlafen. Ich wartete, bis der Blutkreislauf wieder in Gang gekommen war, kämpfte mich hoch und ging nach nebenan. Dort war es finster. »Alex!«, rief ich. »He! Alex? Wo steckst du?« Keine Reaktion. Ich ging ganz hinein, machte Licht. Er war nicht da. Auf der Holzkiste, die uns als Tisch diente, lag ein beschriebener Zettel. Ich nahm ihn zur Hand. Blinzelnd im grellen elektrischen Licht, las ich.
Adèle!
Es hat mir nichts ausgemacht, dass Du Dein wahres Alter geheimhältst, obwohl mir in letzter Zeit schon schwante, dass Du keine siebzehn mehr sein kannst – dafür bist Du einfach zu klug. Wer weiß, hab ich gedacht, vielleicht hat sie sich gut gehalten und ist in Wahrheit schon Mitte oder gar Ende zwanzig und hat Komplexe deswegen, wie die meisten Nutten in dem Alter. Auch darauf dass Du vielleicht schon über die dreißig weg bist, war ich gefasst. Womöglich hätte ich mich auch mit vierzig abgefunden. Aber tausendundzweihundert Jahre! Ich sage es Dir lieber gleich in aller Offenheit: Sex mit Dir zu haben kann ich mir nicht mehr vorstellen. Verzeih. Und ich verzeihe Dir den blinden Hund. Vielleicht bin ich ja wirklich blind im Vergleich zu Dir. Aber doch nicht ganz. Ab morgen gehe ich wieder arbeiten. Kann sein, dass ich diesen Entschluss noch mal bereue. Oder gar nicht mehr dazu komme, ihn zu bereuen. Doch wenn alles läuft wie geplant, werde ich als Erstes ein paar akute Fragen klären, die in unserer Abteilung anstehen. Anschließend werde ich zur Klärung der Fragen übergehen, die anderswo anstehen. Die wunderbare Kraft, die Du mir zum Geschenk gemacht hast, möchte ich in den Dienst des Vaterlands stellen. Hab vielen Dank dafür – im Namen unserer ganzen Organisation, der Du so voreingenommen gegenüberstehst. Und nochmals vielen Dank für all das Erstaunliche, das zu begreifen Du mir geholfen hast – wenn auch nicht restlos und nur vorübergehend, nicht wahr. Als meine Seelenverwandte werde ich Dich ewig lieben. Leb wohl für immer. Und danke auch, dass Du mich bis zuletzt immer Grauer genannt hast.
Sascha Tschorny8
»Mein Kopf eine dunkle Laterne mit eingeschlagenen Scheiben …« Ich erinnere mich sehr gut an diesen Moment. Fassungslosigkeit war es nicht. Ich hatte immer gewusst, dass ich ihn nicht ewig würde halten können, der Tag würde kommen. Dass es so wehtat, hatte ich nicht erwartet.
Mein Mondkind! Traumtänzer! Tanze nur, tanze ruhig noch ein Weilchen weiter, dachte ich mit ergebener Zärtlichkeit. Wirst schon noch k!ug werden irgendwann. Schade nur, dass ich dir das Urgeheimnis nun nicht mehr verraten kann. Obwohl … Vielleicht schreibe ich dir ja auch einen Brief? Er wird freilich länger werden als deiner, und du musst ihn zu Ende lesen, wenn du wissen willst, was es war, das ich dir vor deinem Weggang nicht mehr sagen konnte. Vielleicht kann ich dir damit die Freiheit vergelten, die du mir, ohne es zu wissen, geschenkt hast?