Au ja, das mache ich!, sagte ich mir. Ich schreibe ein Buch, das ganz sicher eines Tages in deine Hände gelangt. Du wirst ihm entnehmen können, wie man sich aus der eisigen Finsternis befreit, in der Oligarchen und Staatsanwälte, Liberale und Konservative, Homos und Heteros, Online-Kolumnisten, Werwölfe in Uniform und Portfolio-Manager mit den Zähnen knirschen. Und vielleicht können außer dir noch andere edle Geschöpfe mit Herz und Schweif aus dem Buch ihre Schlüsse ziehen …
Fürs Erste leb wohl! Und danke für die Hauptsache, die du mir eröffnet hast. Danke für die Liebe …
Dann ließ ich es geschehen: Bäche von Tränen rannen mir über die Wangen, ich saß auf der Kiste und konnte lange nicht aufhören zu weinen, den Blick auf das quadratische weiße Papier mit seiner regelmäßigen Handschrift gerichtet. Ja, bis zum letzten Tag hatte ich ihn Grauer genannt, um ihm nicht wehzutun. Doch er war stark. Er hatte kein Mitleid nötig.
Es war einmal im stickigen Moskau, da trafen sich zwei einsame Existenzen. Die eine erzählte, sie sei zweitausend Jahre alt, die andere gab zu, Krallen an einer gewissen Stelle zu haben. Sie verflochten für kurze Zeit ihre Schweife, sprachen über die höchsten Dinge, heulten den Mond an, und dann zogen sie wieder ihrer Wege, wie zwei Schiffe im weiten Meer …
Je ne regrette rien. Doch ich weiß, ich werde nie wieder so glücklich sein wie im Hongkong der sechziger Jahre am Rande des Bitza-Parks, mit einer seligen Leere im Herzen und seinem schwarzen Schweif in der Hand.
Dieses Buch war schon beinahe zu Ende geschrieben, als ich auf einem Fahrradausflug Michalytsch begegnete. Müde vom Pedalentreten, ruhte ich auf einer jener massiven Holzbänke aus, die auf der Brache nächst dem Bitza-Park standen, und sah gebannt den von der Rampe springenden Bikern zu. Aus irgendeinem Grund hatten ihre Räder auffällig tiefe Sättel – spezielle Sprungräder, nahm ich an. Obwohl sie ansonsten wie normale Mountain-Bikes aussahen. Als ich mich von den Springern abwandle, stand Michalytsch neben mir.
Er hatte sich äußerlich sehr verändert, trug einen modernen Haarschnitt und nicht mehr diesen Retro-Banditenlook, sondern einen eleganten schwarzen Anzug aus der rebel share-holder-Kollektion von Diesel. Unter dem Jackett ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift I Fucked Andy Warhol. Noch darunter lugte eine Goldkette hervor, nicht zu dick, auch nicht zu dünn – angemessen. Runde Armbanduhr im Stahlgehäuse. Nike-Air-Sneakers, wie ein Mick Jagger sie trug. Wenn man sich überlegte, was für einen weiten Weg die Firma doch gegangen war seit der Zeit, da ich zu Volkskommissar Jeshow auf die Datscha gefahren war, um den neuesten Nabokov abzustauben! …
»Hallo, Michalytsch«, sagte ich.
»Grüß dich, Adèle.«
»Wie hast du mich denn gefunden?«
»Du weißt doch. Das Gerät.«
»Gib nicht so an, du hast gar kein Gerät. Das weiß ich von Alex.«
Er ließ sich neben mir auf der Bank nieder.
»O doch, meine liebe Adèle. Und ob ich eins habe! Aber es ist streng geheim. Der Genosse Generaloberst hat so mit dir geredet, wie es in den Dienstvorschriften steht. Nur ich, als ich es dir damals zeigte, habe die Vorschriften verletzt. Wofür mir der Genosse Generaloberst anschließend den Kopf gewaschen hat. Jetzt gerade verletze ich die Vorschriften übrigens schon wieder. Während der Genosse Generaloberst sich immer streng daran hält.«
Ich war mir nicht mehr sicher, wer von den beiden log.
»Und die Putzfrau von der Pferderennbahn, arbeitet die trotzdem bei euch?«
»Wir sind in unseren Methoden sehr flexibel«, wich Michalytsch einer Antwort aus. »Das ginge auch gar nicht anders. Ist ja doch ein großes Land.«
»Das ist wahr.«
Ein, zwei Minuten schwiegen wir. Interessiert schaute Michalytsch den Springern an der Rampe zu.
»Wie geht es Pawel lwanowitsch?«, fragte ich für mich selbst überraschend. »Macht er immer noch Fachberatung?«
Michalytsch nickte.
»Er war erst neulich wieder bei uns. Hat ein Buch empfohlen, wie hieß das noch mal …« Michalytsch griff sich in die Jacketttasche, zog einen Zettel hervor und reichte ihn mir. Martin Wolf. Why Globalization Works, stand mit Kugelschreiber darauf geschrieben. »Ist alles in Wirklichkeit gar nicht so von der Hand zu weisen, hat er gemeint.«
»Ach so?«, sagte ich. »Na, umso besser. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Apropos, was ich schon lange fragen wollte: Diese ganzen Weltbankfunktionäre, der Wolfensohn und jetzt dieser Wolfowitz – sind die etwa alle …?«
»Wölfe gibt es verschiedene, genau wie Menschen«, sagte Michalytsch. »Aber uns können die sowieso nicht mehr das Wasser reichen. Die Firma hat jetzt ganz andere Möglichkeiten. Nagual Rinpoche gibt es nur einen auf der Welt.«
»Wen?«
»So nennen wir unseren Genossen Generaloberst.«
»Wie gehts ihm eigentlich?«, konnte ich mir die Frage nicht verkneifen.
»Gut.«
»Was treibt er so?«
»Steckt in der Arbeit bis über die Ohren. Und sitzt anschließend noch im Archiv. Quellenstudium.«
»Was denn für Quellen?«
»Er studiert die Erfahrungen von Genossen Bellow.«
»Ach, der aus dem Buch. Leiter der Unterabteilung Säuberung …«
»Sprich nicht über Dinge, von denen du keine Ahnung hast«, rügte Michalytsch mich streng. »Über ihn sind jede Menge Gerüchte im Umlauf. Alles Lüge und Verleumdung. Die Wahrheit weiß keiner. Wie der Genosse Generaloberst das erste Mal in der neuen Uniform auf Arbeit kam, haben unsere dienstältesten Mitarbeiter geweint vor Rührung! So was hatten sie seit anno neunundfünfzig nicht mehr gesehen, nachdem Genosse Bellow tot war. Das ging damals alles den Bach runter. Weil nur er es zusammengehalten hatte.«
»Wie ist er eigentlich zu Tode gekommen?«
»Er wollte unbedingt als Erster ins Weltall fliegen. Und kaum hatten sie eine Kabine entwickelt, wo ein Hund reinpasste, hat ers gemacht. So einen kannst du nicht halten … Es war ein riesiges Risiko – in der ersten Zeit ging jeder zweite Start in die Binsen. Er wollte es trotzdem. Und so kam es …«
»So ein Idiot«, sagte ich. »Viel Ruhmsucht und nichts dahinter.«
»Das hat mit Ruhmsucht nicht das Geringste zu tun. Hast du eine Ahnung, warum Genosse Bellow ins Weltall geflogen ist! Er wollte dem Nichts auf den Schwanz treten, bevor es ihm drauftritt, das war es. Aber er hat ihn verfehlt. Um drei Winkelsekunden …«
»Weiß Alexander von diesem Bellow?«, fragte ich.
»Inzwischen schon. Ich sag doch, er sitzt nächtelang im Archiv.«
»Und was meint er dazu?«
»Der Genosse Generaloberst hat es so formuliert: Auch Titanen haben ihre Grenzen.«
»Alles klar. Und was wollen die Titanen von mir?«
»Eigentlich nicht viel. Ich soll dir nur was ausrichten.«
»Na, dann.«
»Du reißt angeblich das Maul ziemlich weit auf – von wegen, du wärest ein Überwertier …«
»Hm. Was dagegen?«
»Allerdings. In diesem Land sollte jeder wissen, wohin er gehört und wem er untersteht. Das betrifft die Menschen genauso wie die Wertiere.«
»Bin ich irgendwie im Weg?«
»Das kann man so nicht sagen. Aber Überwertier kann nur einer sein. Was wäre er sonst für ein Überwertier?«
»Das ist eine haltlose Auffassung vom Überwerwesen. Das riecht nach Nietzscheanismus in der Knastversion. Ich für mein Teil …«
»Du, lass mal«, unterbrach mich Michalytsch und hob die Hand, »ich bin nicht zum Quasseln gekommen. Es ging uns nur um die Mitteilung.«
»Ah ja«, seufzte ich. »Und was soll ich jetzt machen? Leine ziehen?«
»Nein, wieso? Deine Zunge hüten sollst du, das ist alles. Immer schön dran denken, wer hier das Überwertier ist. Und keinen Scheiß mehr erzählen, was das angeht. Damit erst gar kein Kuddelmuddel in den Kopien entsteht … Kapito?«