«Warum denn das?«
«Ick habe 'n Schlaraffenland entdeckt. Und eh det verdorrt — «
«Raus!«sagte Dr. Portner milde.»Fragen Sie Wallritz, ob wir Säcke haben…«
Beim Morgengrauen verabschiedete sich Dr. Körner von Dr. Portner. Sie standen am Kellereingang zwischen den Hausruinen. In der Stadt war es still. Dicker Nebel lag über den Trümmern und Gräben. Die Artillerie schoß nicht mehr, die Panzer und Kanonen standen irgendwo in Deckung und klebten vor Nässe. Dr. Portner hob den Kopf in das undurchsichtige Grau über sich.
«Es wird bald Winter werden…«Er gab Dr. Körner die Hand und hielt sie fest.»Machen Sie's gut, mein Junge.«
Dr. Körner nagte an der Unterlippe.»Ich mache mir Gewissensbisse«, sagte er leise.
«Quatsch!«
«Ich lasse Sie zurück, als wolle ich mich drücken.«
«Sie unverbesserlicher Idealist. Hauen Sie ab!«
«Sie werden die Arbeit nicht allein bewältigen können…«
«Wallritz ist gut eingearbeitet. Er wird mir assistieren. Und wenn dieser Knösel zurückkommt, habe ich um die äußere Organisation keine Sorge mehr. Manchmal bestaune ich diesen Kerl wie ein Weltwunder. Vielleicht muß man tatsächlich ein Halbidiot sein, um auch im Krieg angenehme Seiten zu entdecken. «Er ließ Körners Hand los und gab ihm einen Stoß vor die Brust.»Los! Ab durch die Mitte, Körner! Und steigen Sie im >Ostland< ab… sie haben damals, als ich dort wohnte, gerade neue Matratzen bekommen!«
Er blieb stehen, bis Körner und Knösel im Nebel verschwunden waren. Hinter ihnen tappten noch zwei Leichtverwundete, die zusammengerollte Bündel unter den Armen trugen. Zehn Säcke für Knösels Schlaraffenland.
Dr. Portner stand noch immer in den Trümmern, als schon lange die Schritte in dem breiigen Grau verklungen waren. Sein Sarkasmus war abgefallen, er hatte ein nacktes Gesicht, als habe es der Nebel ausgewaschen. Und dieses Gesicht war verfallen und alt, durchfurcht von dem Wissen, am Ende eines Lebens zu stehen, das einmal mit großen Plänen begonnen hatte.
Durch den Nebel schwankten einige geisterhafte Gestalten. Zwischen ihnen wippten Tragen und pendelten gefüllte Zeltplanen. Das Knirschen ihrer Stiefel auf den Trümmern war der einzige Laut. Ein Geisterzug in einer toten Stadt.
Dr. Portner steckte die Hände in die Tasche. Er würde wieder bis zum Abend operieren. Und ein neuer Granattrichter mußte ausgesucht werden… vier waren schon als Massengrab zugeschüttet worden. Er stieg die Treppe hinab in den Keller und winkte Wallritz zu, der in einer Ecke hockte und aus einem Kochgeschirr Gulasch löffelte. Die Feldküche des Bataillons, vier Keller weiter, hatte einen Kessel voll herübergeschickt.
«Kundschaft!«sagte Dr. Portner.»Und meine Portion Gulasch können Sie mitessen, Wallritz… ich habe heute keinen Hunger.«
Mit gesenktem Kopf ging er in den OP-Keller. Wenn Körner
Glück hat, kommt er nicht wieder, dachte er. Hier wird es bald zu Ende sein. Und er hatte das Empfinden eines Vaters, der seinen Sohn für immer verabschiedet hatte.
Major Kubowski war in einer unschönen Lage. Er saß mit zwanzig Männern in einem alten Wasserturm und kam sich vor wie ein Wolf in einem brennenden Wald. Um ihn herum lagen deutsche Pionier- und Panzergrenadierkompanien. Ganz plötzlich war er in diese Lage gekommen. Vor einem Tag noch war der Rest des Wasserturms ein gutes Befehlszentrum gewesen, in dem Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski die Meldungen seiner Offiziere empfing, von Genossen des städtischen Verteidigungsrates besucht wurde und einmal sogar einen Genossen General begrüßen konnte, der mit einem Fernglas die deutschen Stellungen absuchte und zum Abschied sagte:»Genosse Jewgenij Alexandrowitsch — in wenigen Tagen sieht es anders aus! Großes bereitet sich vor! Ich weiß es vom Genossen Tschuikow. Im Donbogen wird es beginnen und gleichzeitig aus dem Brückenkopf von Beketowka heraus. Es kommt darauf an, daß Sie den >Tennisschläger< halten, und wenn Sie sich mit den Zähnen festbeißen!«
Über Nacht wurde es anders. Überall waren die Deutschen durchgebrochen, und der Wasserturm Kubowskis wurde eine Insel, gegen die graue Wellen brandeten. Über zweihundert Tote hatte diese Nacht gekostet, und es war keiner mehr neben Kubowski, der nicht verwundet war. Über ein Funkgerät meldete er die Lage und fragte, was er tun solle.
Die Antwort kam sofort.
Aushalten!
Major Kubowski hielt aus. Jede Stunde zählte er die Munition und rechnete. Nach zwei Tagen waren die Brotbeutel leer, aus den Wasserkanistern lief kein Tropfen mehr.
«Es scheint so, als seien wir am Ende«, sagte er zu Iwan Iwanowitsch Kaljonin, der neben einem MG hockte und auf einem Stück Holz kaute.
Das regte den Speichelfluß an und verhinderte ein Durstgefühl.
«Was sagt der Kommandeur?«fragte Kaljonin.
«Die Sowjetunion ist stolz auf euch!«
«Davon wird man nicht satt, Genosse Major.«
Kubowski überhörte es und starrte hinaus in die Trümmer. Man sollte durchbrechen, dachte er. In der Nacht. Es war immerhin eine Möglichkeit. Hier herumsitzen und das letzte Magazin zu verschießen und sich dann wie eine Ratte totschlagen zu lassen, war für Kubowski ein nicht akzeptabler Gedanke.
«Wir brechen durch!«Funkte er deshalb an die Befehlsstelle im >Tennisschläger<. Und der Genosse Oberst funkte sofort zurück:
«Genehmigt. Aber nach Westen!«
Dazu kam es nicht mehr. In der dritten Nacht, als die Handvoll Sowjetsoldaten, neben sich die letzten Munitionskästen, hinter den dicken Mauern des Wasserturmes lagen und auf die deutschen Pioniere warteten, als deutsche Pak Meter um Meter der Trümmer umpflügte und Kubowski sich ausrechnete, wann die Feuerwalze auch ihn erreichen würde, brachen aus zwei Straßen mehrere dunkle, donnernde Ungetüme hervor. Mit flammenden Rohren rollten sie über die Ruinen, durchstießen morsche Haus wände und wälzten sich geraden Weges auf die Häuser zu, in denen die Deutschen saßen und mit geballten Ladungen und einem Flammenwerfer versuchten, den stählernen Ungeheuern Einhalt zu gebieten.
«Panzer!«schrie Kaljonin und machte einen Luftsprung.»Genosse Major! Panzer! Sie machen uns Luft!«
«Benehmen Sie sich, Genosse Kaljonin«, sagte Major Kubowski würdevoll.»Sie tun ja so, als hätten Sie nicht an einen Sieg geglaubt…«
Dann lagen sie wieder im Feuer deutscher MGs, sprangen aus ihren schützenden Mauern und rannten den Panzern nach, die tun sich feuernd die deutschen Schützenlöcher niederwalzten.
Das Ganze dauerte eine knappe halbe Stunde. Dann stand der alte Wasserturm wieder ruhig zwischen Trichtern und Ruinen. Die alte Lage war wiederhergestellt. Major Kubowski ging aufrecht zu seinem Befehlsstand zurück.
In dem Raum, in dem das Funkgerät stand und in der Ecke ein Feldbett, auf dem Kubowski seit seiner Einschließung nicht mehr gelegen hatte, trug man die Verwundeten zusammen. Der Kartentisch war abgeräumt. Auf dem schmalen, selbstgezimmerten Tisch mit der Platte, die aus einer darübergelegten Tür bestand, an der noch das Namensschild >Ostrowo< geschraubt war, lag ein nackter Rotarmist und wimmerte. Ein schmaler Mann beugte sich über ihn und schnitt ihm Fleischfetzen aus der Brust.
«Sieg, Genosse!«grüßte Kubowski und setzte sich auf sein Feldbett.»Woher kommen Sie?«
Der zartgliedrige Mann drehte kurz den Kopf herum. Große schwarze Augen sahen Kubowski an, ein schmales weißes Gesicht mit Dreckspritzern, ein weicher Mund, und unter der Mütze kurz-geschnittene schwarze Haare, die sich vor der Stirn etwas lockten. Kubowski schnellte von seinem Feldbett hoch.
«Ja! Das ist… Sie sehen mich sprachlos, Genossin! Darf ich fragen, wer Sie sind?«
Major Kubowski trat an seinen Kartentisch heran. Jetzt sah er auch die Rundungen unter der Uniformbluse. Er blähte die Nasenflügel wie ein witternder Hund und roch den leichten Duft eines Rosenparfüms.
«Reden Sie nicht! Fassen Sie mit an, Major!«Die Stimme war hell, befehlsgewohnt und hart.»Drehen Sie den Genossen auf die Seite… die Kugel steckt noch in der Brust…«