Und so lagen in den Magazinen und Lagern von Peskowatka,
Millerowo, Tormosin, Tschir, Tatsinskaja, Tscherkowo und Ka-myschewskaja, fein säuberlich gestapelt und gezählt und listenmäßig erfaßt: 40 000 Pelzmäntel, Pelzmützen und Pelzstiefel. Zur Konservierung dieses haarigen Bestandes lagerten gleichzeitig 25 Zentner Mottenpulver. Ferner wurden aufgeschichtet: 200 000 Hemden, 100 000 Paar Filzstiefel, 40 000 Mützen, 83 000 Unterhosen, 53 000 Uniformröcke, 61 000 Uniformhosen, l2l 000 Tuchmäntel und eine Riesenmenge Strümpfe, Pulswärmer, Handschuhe, Kopfschützer, Ohrenschützer, Schals und Halstücher. Hier lagen Kamelhaarpantoffeln, Kaffeewärmer, Fußballtrikots, Damenmuffs, Ringelsöckchen, hellgelbe Angorapullover, Schlittschuhstiefel und großväterliche Schlafröcke.
Ein Gebirge von Kleidung türmte sich rund um Stalingrad auf… aber die kämpfende Truppe sah davon nichts! Es war ja ihre Schuld, daß sie so merkwürdige, sich immer ändernde Meldungen abgab, die die Listen der Zahlmeister immer wieder durcheinander brachten und daher eine Ausgabe verhinderten.
In diese Welle von Nervosität und Sich-im-Kreise-Drehen kam Dr. Körner hinein. Generalarzt Professor Dr. Abendroth begrüßte ihn kurz und nahm die Grüße Dr. Portners entgegen. Aber es schien, als ob er die Worte gar nicht wahrnehme. Auch in seiner Verwaltung schossen die Beamten Kobolz. Hier war es vor allem das Transportsystem, das Sorge bereitete. Es war zu wenig Laderaum vorhanden, um alle Verwundeten aus Stalingrad und den umliegenden Lazaretten wegzubringen. Andererseits fuhren täglich lange Leerzüge nach Westen, aber sie zu benutzen war unmöglich, weil sie als Nachschubtransportraum deklariert waren und die verantwortlichen Intendanten peinlich darüber wachten, daß mit diesen Waggons nur Versorgungsgüter, aber keine Verwundeten transportiert wurden.
Sie hatten auch eine gut deutsche Erklärung dafür: Für den Verwundetentransport gab es die Sankas und die Lazarettzüge. Wenn erst einmal die Unordnung einriß, daß artfremde Dinge in genau bestimmten Waggons transportiert wurden, ergäbe sich ein Chaos. So rang also Generalarzt Professor Abendroth um Waggons und Autos und schlug sich mit dem Generalintendanten herum.
Um Dr. Körner kümmerte sich niemand. Er stand in Pitomnik, sah den landenden Flugzeugen zu und wunderte sich über die Masse Material, die ausgeladen wurde. Es war ihm rätselhaft, wohin alles kam, denn vorn in der Stellung am >Tennisschläger< wurden die Bunker überrollt, weil die Soldaten keine schweren Waffen hatten und die Patronen zählten, bevor sie sie verschossen.
Endlich, am 15. November, stand die Sondermaschine auf dem Flugplatz bereit. Man begrüßte sich im Gebäude der Flugleitung, stieg in die Ju und ließ sich emportragen in einen düsteren grauen Himmel. Ein Stabsintendant drückte das Gesicht an die Scheibe.
«Sieht nach Schnee aus«, sagte er.»Die Jungs in Stalingrad sollten ’was voran machen! Mit etwas mehr Schwung hätten sie längst die paar Russennester ausräuchern können. Ich verstehe einfach nicht, daß es nicht vorangeht. Unsereiner hat doch auch alles planmäßig in Ordnung…«
Dr. Körner schwieg. Er war innerlich zu aufgewühlt, um aktionsfähig zu sein. Was hätte es auch für einen Sinn gehabt, aufzustehen und zu sagen:»Herr Stabsintendant — Sie sind ein dreckiges Schwein!«? Man würde ihn zusammenbrüllen und einen Tatbericht einreichen.
Körner sah sich um. Er war der Jüngste und Rangniedrigste im ganzen Kreis. Er merkte es auch daran, daß man ihn nicht ansprach oder in die Unterhaltung zog. Man beachtete ihn kaum. Er flog mit, das war auch alles. Die gut genährten, rundlichen Gesichter der Zahlmeister und Spezialisten, darunter ein Architekt, der Pläne für eine Lazarettstadt Stalingrad mit sich führte, und ein Verwaltungsbeamter, der in zwei Eisenkisten wichtige Bestandsmeldungen herumschleppte, glänzten schweißig. Es war warm in der Maschine, drückend schwül und stickig. Man knöpfte die Uniformkragen auf und ließ eine Flasche Cognac kreisen. Bis zu Körner kam sie nicht. Er saß in der letzten Reihe, und bevor sie in diese Ecke kam, wanderte sie schon wieder zurück.
Er sah auf seine Uhr. Am >Tennisschläger< stellte Dr. Portner jetzt die Verwundeten zusammen, die man nach rückwärts zu bringen versuchte. So nahe es möglich war, fuhren die Sankas heran. Aber bis zu ihnen ging es einige hundert Meter durch Trümmer und Hölle. Mit den Tragen rannten dann die Sanitäter um ihr Leben.
Einer der Zahlmeister drehte sich zu Dr. Körner herum. Schließlich mußte man ihn ja auch einmal ansprechen.
«So still, Doktor? Woran denken Sie?«
«An meine Toten«, sagte Dr. Körner.
Der Zahlmeister zuckte zusammen und drehte sich schnell wieder weg. Ein unangenehmer Mensch, dachte er dabei. Fliegt in den tiefsten Heimatfrieden und denkt an die Toten. Der Krieg verroht doch die Gefühle…
Major Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski verbrannte nicht im Gegenstoß der deutschen Flammenwerfer. Es wäre auch zu schade gewesen, denn einerseits war er ein schöner Mann, und zum anderen harte das Schicksal noch etwas anderes mit ihm vor, als ihn in einem Strahl heißen Öles verschmoren zu lassen. Es war eigentlich wie immer seit dem Tag, an dem die Deutschen über den Don und an die Wolga kamen: Das Bataillon Kubowskis wurde dezimiert, aber er selbst kam heil davon und wunderte sich selbst über dieses unverschämte Glück.
Nur ging es diesmal nicht ganz so glimpflich ab. Kubowski wurde verwundet. Nicht schwer… ein deutscher Gewehrgranatsplitter ritzte ihm die Kopfhaut auf und nahm ein Stückchen Fell mit. Es blutete, als wolle der ganze Körperinhalt ausfließen, und es schmerzte, als hackten tausend kleine Teufelchen auf dem Gehirn herum. Mladschij Sergeant Kaljonin wickelte vier dicke Verbandspäckchen um den Kopf seines Majors, bis die Blutung endlich zum Stillstand kam.
«Es hat alles sein Gutes, Genosse Major«, sagte Kaljonin mit einem vertrauten Augenzwinkern.»Sie werden in das Feldlazarett >Tennisschläger< kommen. Zu Oberleutnant Pannarewskaja.«
Major Kubowski seufzte. Die deutsche Artillerie hämmerte wieder in die Trümmer. Es war sinnlos, was sie tat, denn statt zu vernichten, schichtete sie nur noch mehr Steine aufeinander, unter denen sich die Rotarmisten einnisteten wie Küchenschaben. Kam dann der Alarm, daß die Deutschen angriffen, krochen sie aus den Kellern hervor und schossen um sich. Genauso war es drüben auf der deutschen Seite. Eigentlich hätte man vernünftig sein müssen und sich sagen können: Brüderchen, laßt uns aufhören. Immer neue Tote gibt’s, und was kommt dabei heraus? Nichts!
In der Nacht wurde Kubowski abgelöst. Mit dem Rest seines Bataillons schlug er sich bis zur Mitte des >Tennisschlägers< durch, und es war ein wirkliches Durchschlagen, denn überall tauchten in den Trümmern deutsche Stoßtrupps auf und schossen auf die zurückspringenden und kriechenden Rotarmisten.
Im Keller eines staatlichen Magazins war endlich Ruhe. Kubowski überzeugte sich, daß seine Leute Platz hatten und sich auf Decken und Matratzen hinlegen konnten.
«Schlaft, und sauft nicht!«sagte er mahnend wie ein Vater und hob den Zeigefinger.»Ihr wißt, in vierundzwanzig Stunden ist das Paradies vorbei!«
Dann machte er sich auf den Weg und suchte den Lazarettkeller. Viermal lag er schwer atmend in einem Trichter, weil die deutsche Artillerie das Gelände abkämmte, und als er endlich den Eingang erreicht hatte, warf ihn der Luftdruck einer explodierenden Granate die Stufen hinunter auf ein Knäuel Verwundete, die nicht ausweichen konnten, weil es zu eng war. So fiel er weich, sehr zum Unwillen der von oben Gefallenen. Es gab sogar einen unbekannten Genossen unter ihnen, der den Major Kubowski in dem allgemeinen Durcheinander und Geschrei kräftig ins Gesäß trat.