Durch drei Räume voll stinkender Körper und wimmernder Fleischhäufchen führte ihn ein Sanitäter in den OP-Raum, aus dem ihm Stöhnen und Wimmern entgegenschallten.
Kubowski zögerte kurz, ehe er eintrat. Unter einem starken Scheinwerfer, den ein Benzindynamo speiste, stand eine breite Gestalt mit nacktem Oberkörper, über den eine Schürze gebunden war. Es war unerträglich heiß im Zimmer, einmal von dem starken Scheinwerfer und zum zweiten von der dicken, verbrauchten Luft, die Kubowski entgegenschlug wie ein Hammer. Er riß, nach Luft schnappend, den Mund auf und blieb in der Tür stehen.
«Es zieht!«schrie der breite Mann und straffte den nackten, muskelbepackten Oberkörper. Vor ihm lag ein nackter Verwundeter, und was Kubowski sah, war nicht danach, ihm wohler werden zu lassen.
«Die Leichtverwundeten in Keller V, verdammt noch mal! Wo ist Piotr, der faule Hund?!«
«Guten Morgen, Genosse Majorarzt!«sagte Major Kubowski und griff an seinen dicken Kopfverband.»Ich dachte, die Genossin Pannarewskaja hier zu treffen.«
«Nein!«Der Arzt drehte sich um.»Da Sie gehen können, Genosse Major, ist hier der falsche Platz für Sie. Bei mir müssen Sie sich anstellen zum Massengrab. «Er wandte sich wieder dem Verwundeten zu und schien Kubowski vergessen zu haben. Nun kam auch Piotr, der Sanitäter, herein und trug einen Armvoll Binden zu einem Instrumententisch. Kubowski nickte dem halbnackten Mann zu.
«Wer ist das?«
«Andreij Wassilijewitsch Sukow, unser Chirurg. Gehen Sie bitte in den nächsten Verbandsraum…«
Hier, in einem größeren, unterteilten Keller, fand Kubowski endlich die Pannarewskaja. Sie verband die Gehfähigen, gab Injektionen, verteilte Pillen und Pulver und schimpfte wie ein alter Donkosak, wenn jemand sich muckste oder» Au!«schrie.
Ihr Blick wurde starr und ungläubig, als sie Major Kubowski eintreten sah, ja, sie ließ sogar eine Mullrolle sinken und schüttelte den Kopf. Kubowski schluckte. Er war noch nicht gefühllos genug, um nicht inmitten des grausamen Leides die Schönheit zu bemerken.
«Sie…?«sagte die Pannarewskaja gedehnt und verband weiter.
«Sie haben mir ein Rendezvous versprochen, Genossin Oberleutnant«, erwiderte Kubowski keck.
«Und da haben Sie Ihren Kopf hingehalten, um es zu ermöglichen?«
Olga Pannarewskaja winkte ab, als ein neuer Verwundeter zu ihr treten wollte.»Erst den Genossen Major, mein Junge. Sieh einmal, wie er leidet. Die Augen verdreht er schon.«
«Ich bin fast ausgeblutet, Olga. «Kubowski trat zu ihr. Jetzt, wo er ganz nahe vor ihr stand, wo er wieder die Rundungen unter der Feldbluse bemerkte, das Flimmern in ihren Augen aufnahm und ihre schwarzen Haare vor ihm zitterten, fühlte er sich wirklich elend und schwach.
«Setzen!«kommandierte die Pannarewskaja.
«Bitte…«
«Setzen! Sie sind zu groß, um Sie stehend zu untersuchen. Oder soll ich auf den Tisch steigen?«
Gehorsam hockte sich Kubowski auf einen alten Holzstuhl. Olga Pannarewskaja trat zu ihm und wickelte den Verband ab. Major Kubowski nagte an der Unterlippe. Über ihm, etwas höher als seine Augen, wölbten sich die Brüste gegen seine Stirn. Er starrte sie an, und trotz der blutverschmierten Feldbluse machte er sich ein eigenes, plastisches Bild der Anatomie.
«Verflucht!«schrie er plötzlich und zuckte hoch, aber die Hand der Pannarewskaja drückte ihn auf den Stuhl zurück. Sie hatte die letzte Lage von der Wunde gerissen und faßte mit einer Pinzette ein Stück der aufgerissenen Kopfschwarte.»Oh, Genossin — muß das sein?«knirschte Kubowski und wunderte sich über seine Beherrschung.
«Das bißchen Gehirn ist unverletzt«, sagte die Pannarewskaja.»Es wäre auch eine Kunst, solch ein winziges Ziel zu treffen. Ein paar Stiche und etwas Jod, und das Vaterland kann wieder mit Ihnen rechnen, Major…«
Heldenhaft ließ Kubowski die Behandlung über sich ergehen. Er knirschte zwar wie ein Steinbeißer, aber er hielt still. Man gab ihm auch keine örtliche Betäubung, weil, wie die Pannarewskaja sagte, die knappen Narkosemittel für die Schwerverwundeten aufbewahrt werden mußten.
«Ein braver Mann!«sagte sie, als sie nach dem Einpinseln mit Jod einen neuen Verband um Kubowskis Kopf wickelte.»Nur müssen Sie den Helm jetzt drei Nummern größer nehmen!«
Rund um den >Tennisschläger< war wieder die Hölle aufgebrochen. Die Deutschen gaben keine Ruhe. Ihre Artillerie pflügte wieder in den Hausruinen, und noch während Kubowskis Kopf verbunden wurde, trug man neue Schwerverwundete in den großen Keller zu Majorarzt Dr. Sukow. Dann war die Feuerwalze auch bei ihnen. Der Keller bebte, die Wände dröhnten wie Paukenfelle, der Boden schien sich zu heben, Kalk rieselte herab. Kubowski schaute an die rissige Decke.
«Sie hält«, sagte die Pannarewskaja ruhig.»Wir sind zwei Etagen unter der Erde.«
Es war, als wolle man ihre Worte auf die Probe stellen. Ein mächtiger Schlag, ein helles Krachen ließ alle zusammenzucken. Das Aggregat erlosch sofort. Tiefe Dunkelheit hüllte den Keller ein.
Major Kubowski sprang in dieser Finsternis auf. Mit beiden Händen griff er nach vorn, erfaßte ein Stück Stoff und in dem Stoff lebendes, warmes Fleisch. Wie ein Raubtier, das sich festgekrallt hat, zog er es heran, spürte einen Atem vor sich und die geheimnisvolle Ausstrahlung eines Mundes.
«Verzeihen Sie, Genossin!«sagte er noch, denn er war ein gut erzogener, höflicher Mensch. Dann küßte er die Pannarewskaja, und es war ein langer Kuß, denn es war ja stockdunkel um sie herum. Endlich ließ er sie los, bekam einen heftigen Stoß und sank auf den Stuhl zurück.
«Ein verrückter Hund!«sagte die Pannarewskaja leise, aber ihre Stimme war in der Finsternis weich und samtig.
Sie hat sich küssen lassen, dachte Major Kubowski glücklich. Jewgenij Alexandrowitsch, das ist der schönste Tag deines Lebens. Trotz Krieg, Naht und Jod.
Das Hotel >Ostland< in Warschau war genauso, wie es Dr. Portner beschrieben hatte. Neu aufgebaut, mit modernen Zimmern und guten Betten. Es gab einen Portier, eine Rezeption, Zimmermädchen, Kellner in weißen Jacketts, einen Oberkellner im Frack, Köche und einen Grillraum, eine Bar und viel gesellschaftliches Leben, als wäre sonnigster Frieden und kein Krieg, der täglich Tausende von Opfern kostete. Sogar ein Doppelzimmer bekam Dr. Körner, obgleich er sich wegen der unsicheren Abfahrt aus Stalingrad nicht hatte anmelden können. Daß er aus Stalingrad kam, genügte, um ein Zimmer frei zu machen. Alle sprachen in diesen Tagen von der Stadt an der Wolga und dem größten Sieg der deutschen Geschichte, dem man entgegenging. Man war stolz, und man zeigte es auch.
Nach Köln schickte Dr. Körner sofort ein Blitztelegramm: Komme sofort mit nächstem Zug nach Warschau stop Erwarte dich am Bahnhof stop Telegrafiere genaue Ankunftszeit zurück Hans. Dann wusch er sich. Zum erstenmal seit Monaten lag er wieder in einer Badewanne und seifte sich im heißen Wasser ab. Dabei überkam ihn die Müdigkeit, seine seit Monaten angespannten Nerven lösten sich, und er schlief in der Wanne ein. Als das Wasser kalt wurde, wachte er wieder auf und wußte im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Dann trocknete er sich ab und ging ans Fenster.
Über Warschau lag tiefe Nacht. Es regnete. Er zog sich schnell an und fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter in die Hotelhalle. Im großen Saal war ein bunter Abend. Durch die Türen hörte man Gesang und lautes Lachen. Der Chefportier kam Dr. Körner entgegen.
«Etwas speisen, der Herr Leutnant?«fragte der Portier. Dann sah er den Äskulapstab auf den Schulterstücken und rang die Hände.»O Verzeihung, das habe ich zu spät gesehen. Der Herr sind Mediziner? Da kenne ich mich nicht aus in den Diensträngen. «Er sprach ein hartes Deutsch und neigte beim Sprechen den Kopf zur Seite wie ein nachdenklicher Fiakerkutscher.»Es gibt etwas Besonderes heute, Herr Mediziner. Steht nicht auf der Karte. Gefüllte Täubchen. Ist nur für die besonderen Gäste…«»Danke. Nachher. «Dr. Körner sah wieder auf seine Uhr.»Das Telegramm nach Köln ist doch weggegangen?«