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«Aber ja, Herr Mediziner.«

«Wie lange läuft es schätzungsweise?«

«Schätzungsweise — es war ein Blitz, nicht wahr — nun, nicht mehr als zwei Stunden.«

«Und zurück nach Warschau?«

«Wenn auch Blitz… vielleicht vier Stunden. Es kommt auf das Postamt an.«

«Haben Sie einen Fahrplan hier?«

«Alles! Aber der Herr Mediziner mögen bedenken, daß die Züge nicht mehr nach Fahrplan fahren. In der Heimat des Herrn bombardieren die englischen Flieger — «

«Einen ungefähren Anhalt hat man aber.«

Lange blätterte Dr. Körner in dem dicken Fahrplan, der Zahlen und Zeiten nannte und den Beweis deutscher Gründlichkeit erbrachte. Nach dem Fahrplan konnte Marianne morgen gegen Abend in Warschau eintreffen, wenn sie heute mittag nach dem Telegramm gleich abgefahren war. Sonst übermorgen früh gegen sechs Uhr… das war die äußerste Möglichkeit.

«Einmal hat ein Zug zwei Tage gebraucht«, sagte der Portier, als Körner das Kursbuch zurückgab.»Es ist ganz individuell… wie es die Engländer wollen…«

Das klang wie eine versteckte Frechheit. Dr. Körner überhörte sie. Seine Gedanken waren bei Marianne.

«Wo kann ich essen?«

«Im kleinen Speisesaal, Herr Mediziner.«

Das Essen war gut. Reichlich und schmackhaft. Nur handelte es sich nicht um Tauben. Mit viel Gewürzen, vor allem Majoran in der Füllung, hatte man versucht, einen etwas herben Geschmack zu überdecken. Zudem mußten es polnische Riesentauben sein, noch nie hatte Dr. Körner solche großen und prallen Taubenkörper gesehen. Als er zu Ende gegessen hatte, wußte er, was es war. Aber ein Ekel kam ihm nicht hoch… es hatte wirklich vorzüglich geschmeckt. Der Kellner räumte ab.

«Sie haben einen guten Geschmack, Ihre Krähen«, sagte Körner, als er aufstand. Der Kellner grinste breit.

«Ist sich Fleisch, odderr niecht?«sagte er.

Eine Stunde später schlief Körner. Aber es war ein unruhiger Schlaf. Immer wieder wälzte er sich herum. Die von Portner gelobte Matratze war zu weich. Wer monatelang auf einer Holzpritsche geschlafen hat, dem ist eine gute Matratze voller Tücken wie ein mooriger Boden. Der Körper wehrte sich dagegen. Es war schon früher Morgen, als Körner richtig einschlief.

Abends stand er auf dem Bahnsteig und wartete das Einlaufen des Zuges ab. Er hatte einen großen Blumenstrauß gekauft. Große rote Astern, von einer leuchtenden Farbe, wie er sie noch nie gesehen hatte. Und ein Geschenk hatte er gekauft. Der Chefportier hatte ihm eine vertrauliche Adresse gegeben, er schien eine Schwäche für Mediziner zu haben. Es war ein Haus in der Altstadt, und der Bewohner war ein Jude, wie sich schnell herausstellte. Er lebte verborgen außerhalb des Gettos und war ein Goldschmied. Das Erscheinen einer deutschen Uniform war so alarmierend, daß Dr. Körner spürte, wie sich im Hause Unruhe verbreitete, die einer geisterhaften Stille wich. Als er im Treppenhaus schnell nach oben blickte, sah er zwei Köpfe zurückzucken. Es waren zwei Männerköpfe mit fanatischen Augen.

«Oh, Sie kommen von Sascha«, sagte der Goldschmied. Körner sah, wie er aufatmete.»Dann sind Sie ein guter Mensch. Sie wollen etwas kaufen?«

«Für meine Frau… ein Hochzeitsgeschenk…«

Für dreihundert Mark erstand er ein Medaillon an einer goldenen Kette. Ein Lapislazuli, geschnitten wie eine Halbkugel, umrahmt von einem Filigrangerank aus rotem Gold.

Dieses Geschenk trug er nun in der Tasche, als er auf dem Bahnsteig an dem eingelaufenen Zug entlangrannte und Marianne an einem der Fenster suchte. Als er sie nicht sah, rannte er zurück zur Sperre und stellte sich neben die vier Feldgendarmen, die die Fahrkarten und Marschbefehle kontrollierten.

Marianne, sagte er im Inneren, Marianne. Marianne. Immer nur und immer wieder Marianne…

In dem Gewühl von Uniformen aller Waffengattungen, Kopftüchern, Hüten und Mützen, in dem Gedränge der Leiber und dem Berg von Koffern, Kisten und Kartons suchte er einen schwarzen Lockenkopf, einen winkenden Arm, einen roten, jauchzenden Mund und glückliche, strahlende Augen.

Einmal meinte er, sie gesehen zu haben. Er stürzte sich in das Gewühl, zwängte sich durch und warf beide Arme empor.

«Marianne!«schrie er durch den Lärm von Stimmen, Rufen,

Singen und ablassendem, pfeifendem Qualm.»Marianne! Hier! Hier bin ich!«

Er durchbrach eine schimpfende Mauer von Uniformen und rannte auf den schwarzen Lockenkopf zu.

«Marianne…«

Kapitel 3

Als er vor ihr stand, war es nicht Marianne. Es war ein junges Mädchen in einem braunen Wintermantel mit schmalem Fuchspelzkragen; um sie herum standen einige Koffer und Schachteln, und sie sah sehr verlassen und unglücklich aus. Als habe sie Dr. Körner erwartet, ging ein freudiges Leuchten über ihr schmales Gesicht. Sie streckte ihm die Hand entgegen und atmete sichtbar auf.

«Gut, daß Sie endlich kommen«, sagte sie.»Ich hatte schon Angst, man hätte mich vergessen.«

«Verzeihen Sie. «Dr. Körner verbeugte sich korrekt. Die Enttäuschung, daß es nicht Marianne war, machte ihn unsicher und schnürte seine Kehle zu. Er blickte sich noch mehrmals suchend um, aber der Zug hatte sich geleert, die meisten Angekommenen hatten die Sperre und die Kontrolle der Feldjäger passiert. Die Lok wurde bereits abgekoppelt. Durch die Wagen ging eine Streife, um etwaige Schlafende zu wecken und aus dem Zug zu werfen. Auch das war schon vorgekommen, daß Urlauber die Ankunft in Warschau verschliefen, umrangiert wurden und aufwachten, als sie wieder auf der Rückreise in die Heimat waren. Dr. Körner wandte sich wieder dem Mädchen zu, das mit erstaunten, fragenden Augen einen der Koffer vom Boden genommen hatte und darauf wartete, daß sie gingen.

«Erwarten Sie noch jemanden?«fragte sie.

«Ja. Meine Frau…«

«Ihre Frau?«

«Sie wollte mit diesem Zug kommen.«

«Von Berlin?«

«Von Köln.«

«Vielleicht hat sie in Berlin den Zug verpaßt. Auf der Strecke Köln — Berlin waren einige Angriffe.«

Dr. Körner nickte. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm auf. Ich werde noch ein Telegramm schicken, dachte er. Mit bezahlter Rückantwort. Er wollte sich abwenden und zurück zur Sperre gehen, aber das Mädchen hielt ihn am Ärmel fest.

«Wohin gehen wir?«fragte sie.»Ich weiß überhaupt nichts. Es hieß, ich würde abgeholt und in meine Dienststelle eingewiesen. Wohne ich in einem Hotel, oder hat man ein Zimmer für mich? Ich weiß überhaupt nichts…«

Dr. Körner kam es erst jetzt zum Bewußtsein, daß man ihn verwechselte. Er grüßte und stellte sich vor. Die Augen des Mädchens wurden groß und weit vor Hilflosigkeit.

«Sie sind Arzt?«sagte sie leise.»Aber… ich — ich soll doch im Sekretariat des Gouvernements anfangen. Warum — «

«Sie verwechseln mich offensichtlich, mein Fräulein.«

«Sie sind nicht hier, um mich abzuholen?«

«Nein. Ich wollte meine Frau…«

«Ja, das sagten Sie. «Das Mädchen bekam blanke Augen. Plötzlich weinte es und setzte den Koffer wieder auf den Bahnsteig.»Wo soll ich denn hin?«sagte sie wie ein verlaufenes Kind.»Ich weiß doch gar nichts…«

Dr. Körner sah sich um. An der Sperre standen zwei Feldpolizisten. Ihre blanken Schilde vor der Brust leuchteten auf, wenn sie sich bewegten. Körner hob beide Arme und winkte. Die beiden sahen herüber, überlegten, einigten sich schließlich und kamen langsam näher. Sie grüßten ein wenig lässig und warteten ab, was der junge Assistenzarzt von ihnen wollte. Hier auf dem Bahnhof waren sie wie kleine Könige. Sie blockierten die Sperre wie Erzengel das Paradies, und es war ihnen immer eine tiefe Genugtuung, wenn selbst Offiziere ihre Marschbefehle vorzeigen mußten.

«Hier hat man ein Fräulein vergessen«, sagte Dr. Körner.»Sie sollte abgeholt werden, aber niemand ist gekommen.«