«Das Fräulein wartet schon im kleinen Salon auf Sie, Herr Mediziner«, sagte er.»Und Sekt habe ich kalt gestellt. Die Telegramme gebe ich sofort durch.«
«Und Sie benachrichtigen mich, wenn…«
«Sofort, Herr Mediziner, sofort…«
Es wurde ein stilles Essen. Der Kellner servierte die gefüllten Täubchen und blinzelte Körner dabei zu.
«Nix Krähe«, sagte er nahe an seinem Ohr, als er vorlegte.
«Sind sich wirklich Tauben… und Füllung ist sogar Läbbär von Rind…«
Monika Baltus beobachtete während des Essens ihren Gastgeber. Zuerst hatte sie Bedenken gehabt, als er sie in sein Hotel mitnahm. Sie hatte Zudringlichkeiten befürchtet und sich vorgenommen, Dr. Körner zu erklären, daß sie nicht von >jener Sorte Mädchen< sei, die in den Osten kommen und Offizierserinnerungen sammeln wie andere Briefmarken. Aber schon als sie allein mit dem Lift nach oben in ihr Einzelzimmer fuhr, sah sie die Grundlosigkeit ihrer Befürchtungen ein. Nun, während des Essens, war er ihr fast zu still, zu zurückhaltend und gedanklich abwesend.
«Sie kommen direkt von der Front?«fragte sie, als sie erzählt hatte, woher sie kam, wer ihr Vater sei und daß sie noch vier Geschwister hatte, jünger als sie, auch einen Bruder, der sich nächstes Jahr freiwillig melden wolle, obwohl der Vater ihn schon deswegen geohrfeigt hätte.
«Ja«, sagte Dr. Körner.»Ich komme von der Front.«
«Aus dem Mittelabschnitt?«
«Nein. Aus Stalingrad.«
«Oh, aus Stalingrad? Haben wir das bald erobert?«
«Vielleicht…«
«Der Russe ist doch am Ende, sagen sie alle. Nach Stalingrad wird Rußland auseinanderbrechen.«
«Bestimmt«, sagte Körner zerstreut. Er sah immer wieder zur Tür. Heute nacht um drei Uhr kann sie ankommen, dachte er. Sie hat in Berlin nicht den Zug bekommen, das wird es sein. Darum kann sie auch nicht antworten; sie ist ja unterwegs. Dieser Funken Hoffnung glühte in ihm und wuchs zu einer Zuversicht, die die vergangenen Stunden fast vergessen ließ.
Etwa eine Stunde nach Beginn des Essens winkte der Chefportier vom Eingang des kleinen Speisesaales her. Dr. Körner schnellte hoch.»Bitte entschuldigen Sie, Fräulein Baltus«, sagte er mit plötzlich heiserer Stimme.»Ich werde gerufen. Ich bin gleich wieder da. «Mit langen Schritten rannte er hinaus in die Halle. Dort stand der Chefportier mit einem schmalen Umschlag in der Hand. Ein Telegramm.
«Es kann unmöglich eine Antwort der letzten sein«, sagte er.»Es muß die Rückantwort sein oder…«
«Nun geben Sie schon her…«Körner riß den Umschlag auf und entfaltete das schmale Blatt Papier. Er überflog die Zeilen, und es war, als falle plötzlich alles Fleisch von seinem Gesicht, die Augen verdunkelten sich, und die Finger krallten sich in das Telegramm. Der Chefportier zog sich leise zurück. Er ahnte, was aus Köln gekommen war, und das Mitleid wuchs in ihm, als sehe er seinen eigenen Sohn leiden.
Dr. Korner las noch einmal die Zeilen, dann steckte er das Blatt in die Tasche und senkte den Kopf. Langsam ging er zurück in den Speisesaal und blieb vor dem Tisch stehen. Monika Baltus sah ihn entsetzt an, als erkenne sie ihn nicht wieder.
«Ist… ist etwas?«fragte sie, als er stumm vor ihr stand und an ihr vorbeistarrte, gegen die Wand.
«Meine Frau ist tot«, sagte er langsam.
«Nein. «Monika sprang auf.»Aber… aber wieso denn…«
«In Köln… ein Luftangriff… Bitte entschuldigen Sie mich. «Er versuchte noch eine korrekte Verbeugung und ging langsam hinaus. Es war, als hätten seine Stiefel Bleisohlen, die er über den Boden schleifen müßte.
In der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November, dachte er bei jedem Schritt. Verschüttet und erstickt… In der Nacht vom 31. Oktober zum…
Er blieb stehen und sah in einen Spiegel. Er war bereits auf seinem Zimmer und hatte es nicht gemerkt.
«Ich bin ja gar nicht verheiratet«, sagte er leise und starrte sein bleiches Spiegelbild an.»Ich habe eine Tote geheiratet… in Pitomnik… am ersten November…«
Mit einem Aufschrei hob er die Faust und hieb in sein Spiegelbild. Das Glas splitterte, die Scherben schnitten ihm den Handballen auf, Blut spritzte auf seine Uniform… er sah und spürte das alles nicht, zusammengesunken saß er in einem Sessel, die blutende Hand gegen die Brust gepreßt.
Ich habe eine Tote geheiratet, dachte er nur immer wieder. In einem Keller ist sie erstickt… Marianne ist erstickt… in einer Nacht >ohne besondere Vorkommnisse<… ein Polterabend in den Tod… erstickt…
«Mein Gott… o mein Gott«, sagte Dr. Körner und preßte die blutende Faust gegen die Stirn.»Wie soll man das je begreifen…«
Der 19. November begann mit einem heulenden Schneesturm. Aus der Steppe fegte er heran und übergoß das Land mit eisiger Kälte und erstickenden Schneemassen. Vom großen Donbogen über Stalingrad bis Beketowka kroch das Leben unter die Erde, in die Bunker und Erdhöhlen, Baracken oder Keller, Unterstände oder ausgebauten Granatlöcher. Das Thermometer fiel auf zwölf Grad Kälte… auch zwischen Kletskaja und Serafimo witsch hockten die Männer der rumänischen und deutschen Divisionen in ihren Bunkern und Erdhöhlen, rollten sich in Decken, zogen Zeltplanen über die MGs und Minenwerfer und banden Wollschals um Schiffchenmütze und Ohren. Die Rumänen mit ihren Fellmützen hatten es besser, sie zogen sie nur tiefer und hockten sich um die wärmenden Bunkeröfen, rauchten ihre Zigaretten und tranken ein paar Schlucke Marketenderschnaps.
Der Schneesturm heulte ununterbrochen und trieb die letzten Wachtposten in die Erdhöhlen. Es war ein Wetter, vor dem sich selbst eine Ratte verkroch. Der russische Winter hatte begonnen, und er gab seine beste Visitenkarte ab.
Um vier Uhr morgens tönte in diesen Sturm hinein ein blechernes Trompetensignal. Es war eine symbolische Handlung, fast eine theatralische Geste, denn mit diesem Trompetensignal wurde der Untergang einer Armee eingeblasen.
Achthundert Geschütze begannen nach diesem Signal zu feuern. Auf einer Breite von nur drei Kilometern wälzte sich eine Feuerwand über die deutschen und rumänischen Stellungen, zerbarsten die Bunker und Unterstände, wurden die Erdhöhlen verschüttet, wirbelten Körper und Lastwagen, Geschütze und Balken, Werkstätten und Ersatzlager, Munition und Menschen durch die eisige, flammendurchzuckte Luft.
Die rumänischen Divisionen wurden unter die Erde gepflügt, ehe sie begriffen, was überhaupt über sie gekommen war. Sie lagen plötzlich in einer Hölle, die aus einem eisigen, nebelverhangenen Himmel über sie hereinbrach. Es war, als bräche die Erde auf drei Kilometer Breite auf und verschlinge alles, was sich bisher auf ihr bewegt hatte.
Vier Stunden lang trommelten die achthundert sowjetischen Geschütze auf, die deutschen Divisionen. Um acht Uhr früh setzte dann der Sturm ein… Panzerwelle auf Panzerwelle rasselte heran und walzte alles in den aufgerissenen Boden, was sich ihr entgegenstellte. Auf den stählernen Kolossen saßen die sowjetischen
Infanteristen, dunkle Trauben, um die feuernden Türme klebend wie Wespennester.
Drei Panzerkorps und drei Kavalleriekorps der sowjetischen Heeresgruppe >Don< rollten über die aufgerissene deutsche Stellung und drückten die Flanke der Stalingradfront ein. Während in den Trümmern der Stadt die deutschen Regimenter in den Kellern saßen und Haus um Haus eroberten oder wieder verloren, vollzog sich in ihrem Rücken die Tragödie eines vollkommenen Zusammenbruchs, der auch sie mitschluckte wie ein unersättlicher Moloch… die sowjetische Großoffensive zur Befreiung Stalingrads hatte begonnen. Die Reserven, die man so lange zurückgehalten hatte und die man in der Stadt immer wieder angefordert hatte, rollten nun unaufhaltsam in den Rücken der deutschen Truppen.
Das Drama der 6. Armee begann. Noch ahnte es niemand. Noch überblickte keiner die Lage, denn das Durcheinander war nach diesem massiven plötzlichen Feuerüberfall verheerend. Erst am Abend des 19. November sah man klarer. Es bot sich ein trostloses Bild: Eine breit aufgerissene Front, russische Panzerspitzen mitten im Hinterland Stalingrads, flüchtende Kompanien und Regimenter, überrollte Stäbe und Magazine. Der Donbogen war eingedrückt, ein sowjetisches Panzerkorps war auf dem Anmarsch auf Kalatsch… es war ein Sterben in Ratlosigkeit und völliger Überraschung.