Er ließ Dr. Körner stehen und ging hinüber zu den 41 Schwestern, die ihn flehend und bettelnd umringten.
Zwei Stunden später fand Dr. Körner einen Kübelwagen. Er stand hinter einer der Baracken, der Schlüssel steckte im Zündschloß, und so sehr Dr. Körner rief und an die Türen klopfte, keiner wußte, wem der Wagen gehörte.
«Mein Gott«, sagte ein Hauptmann der Eisenbahnpioniere, der tatenlos herumsaß.»Solche Dinger stehen hier genug 'rum. Wo will man denn noch hin mit 'nem Wagen? Zum Flugplatz, das ist das Ziel. Wohin Sie auch fahren… überall stoßen Sie doch auf ’n Iwan… Aber wenn Sie den Kübel gebrauchen können, Doktor… schwirren Sie ab… es kräht keiner mehr danach…«
Dr. Körner setzte sich in den Wagen und fuhr los. Er kam an einem Tanklager vorbei, das von Feldgendarmerie bewacht wurde. Ein Zahlmeister saß neben dem Lager in einem alten russischen Bauernhaus und wurde von vier Offizieren angeschrien. Vor dem Spritlager standen in Doppelreihen Lastwagen und Panzer und warteten.
«Ich kann nicht«, schrie der Zahlmeister zu den Offizieren zurück.»Wie oft soll ich Ihnen noch erklären: Das hier ist ein Brennstofflager der Reichsbahntransportstaffel. Sie aber sind Panzer und Wehrmachtsfahrzeuge. Ich darf ihnen keinen Sprit geben. Ich habe meine strikten Vorschriften…«
«Mann, sehen Sie doch klar. Draußen steht der Russe vor der Tür, unsere Panzer haben nur noch für dreißig Kilometer Sprit, und Sie sitzen auf einem Berg von Benzin und Öl. Wo ist denn Ihre Staffel überhaupt?«
«Das weiß ich nicht. Ich warte auf Nachricht.«
«Die werden Sie aus Sibirien bekommen«, bellte ein junger Leutnant.
«Wenn schon. Ich tue nur meine Pflicht… weiter nichts…«
Während die Panzeroffiziere noch verhandelten und drohten, das Spritlager einfach zu stürmen, bekam Dr. Körner — ohne den Zahlmeister fragen zu müssen — vier Reservekanister Benzin für seinen Kübelwagen.»Für ’n Arzt ist immer was da«, sagte ein Feldgendarmerie-Oberfeldwebel.»Wer weiß, vielleicht sind’s gerade Sie, der mich mal verarztet… Der Clown da drinnen glaubt immer noch, daß seine Buchführung das Wichtigste im Kriege ist…«
Hinter Pitomnik wurde es stiller. Die Steppe bis nach Stalingrad war eine endlose, mit Schneestaub überzogene Fläche. In der Weite verlor sich etwas die Auflösung der Front. Die Mitte des Kessels— er war 65 Kilometer lang und 38 Kilometer breit — hatte noch nichts von dem hektischen Treiben, das an den Außenstellen herrschte. Zwar begegnete Dr. Körner auch hier herumziehenden Formationen, Panzergrenadieren und Bataillonen, die so schnell wie möglich an die Brennpunkte der Einschließungsfront verlegt wurden und die Lücken ausfüllen sollten, durch die die sowjetischen Divisionen durchstießen und den Kessel aufzuspalten versuchten. Es war der Tag, an dem der deutsche Wehrmachtsbericht meldete:
«Im Räume südlich von Stalingrad und im großen Donbogen stehen die deutschen und rumänischen Verbände im Zusammenwirken mit starken Nahkampffliegerkräften weiterhin in schweren Abwehrkämpfen…«
Erst in Gumrak, dem zweiten großen Flugplatz für Stalingrad, wurde es wieder lebendig. Hier sammelte sich ein riesiges Lager von Verwundeten an, die von der Nordfront des Kessels kamen. Sie erzählten, daß eigentlich keiner mehr genau wußte, wie der Frontverlauf sei, denn wo gestern noch deutsche Werkstätten und Trosse in den Bauernhäusern hockten und darüber nachdachten, daß der russische Winter in einem solchen Nest mehr als Mist sei, standen plötzlich sowjetische T 34 und beschossen die verblüfften und entsetzten deutschen Kolonnen, die zu Reparaturen oder zur Ablösung in die Dörfer kamen.
In Gumrak aber war die Lage anders als in Pitomnik. Hier war bereits Frontgebiet Stadt Stalingrad<, zumindest herrschte hier nicht die Ansicht, daß es einzig und allein darauf ankäme, so schnell wie möglich nach Westen zu kommen. Man wußte, was es bedeutete, dem Russen gegenüberzustehen, man hatte es wochenlang in den Trümmern der toten Stadt erlebt und erlitten. Nur die Verwundeten lagen herum, und es wurden stündlich mehr, und fluchten und schrien und drängten sich rücksichtslos zu den Flugzeugen. Ein Stab von Ärzten und Sanitätern regelte das Verladen; vor allem die Schwerverletzten bekamen ihren Platz in den Ju 52 und wurden nach Westen geflogen.
Am 25. November kam Assistenzarzt Dr. Körner wieder in seine alte Stellung im Trümmerfeld von Stalingrad zurück. Drei Tage zuvor hatte der Kommandierende General des I. Armeekorps, General v. Seydlitz, die anderen Korpskommandeure General Jaenicke, General Heitz, General Strecker und General Hube zu einer Besprechung nach Gumrak gebeten und ihnen einen Ausbruchplan vorgelegt. Mit allen verfügbaren, auf engstem Raum zusammengezogenen Kräften sollte die 6. Armee nach Südwesten durchbrechen. Eine stählerne Faust sollte den sowjetischen Eisenring zerschlagen und Anschluß an die 4. Panzerarmee finden, die jenseits des Kessels, nahe genug, wartete, aber nicht genug Kräfte hatte, den Riegel allein aufzureißen. Am 24. November standen 130 Panzer bereit, den ersten Stoß zu führen; ihnen folgten Gruppen von Panzerspähwagen und Gefechtsfahrzeugen als Verstärkung. 17 000 Mann Kampftruppen standen bereit für die erste Welle, die den Riß erweitern sollte, ihnen folgten dann als zweite Welle 40 000 Soldaten.
Die Stellungen in den Kellern und Bunkern der Stadt wurden zum Verlassen vorbereitet. Die Stoßtrupps hockten zwischen den Trümmern und warteten. Bei allen Regimentern begann das große Vernichten. Alles überflüssige Gerät, alles sperrige Material, alles nicht notwendige Gepäck wurde zerstört. General v. Seydlitz gab ein Beispiel dessen, was er unter >Marscherleichterung< verstand: Er verbrannte alles, was er hatte… seine Wäsche, seinen zweiten Mantel, Uniformen… nur was er am Leibe trug, blieb übrig. Im Norden der Stadt zogen sich die Truppen aus den festen Bunkern und Kellern zurück, räumten die Trümmerfelder und legten sich in Bereitschaft zum Ausbruch… in Schneelöchern, vereisten Hügeln und Schluchten. Verwundert stieß der Russe mit starken Kräften nach, fand verlassene deutsche Bunker, vernichtete die Nachhuten und verstand nicht, was er sah.
Am 24. November, kurz vor dem Ausbruch, erhielt General Paulus den Befehl Hitlers, der den Ausbruch verbot. Die 6. Armee hatte sich einzuigeln, die Versorgung aus der Luft versprach Reichsmarschall Göring. Es war der unsinnigste Befehl, der je in einem Krieg gegeben wurde. Ein Befehl, der das Leben von rund 230 000 deutschen Soldaten kostete.
Stabsarzt Dr. Portner stand draußen zwischen den Trümmern am Lazarettkellereingang, als Körner mit einer Kolonne Essenträger durch die Laufgräben hetzte. Ein Teil der Wegstrecke lag unter russischer Einsicht, und es war ein beliebtes Spiel der Sowjets, zu den bekannten Zeiten ein Granatwerferfeuer über die Essenholer zu legen.
Dr. Portner warf seine Zigarette weg, als er Körner erkannte. Sein Gesicht bekam einen Ausdruck wirklicher Ratlosigkeit. Es drückte aus, daß das, was er jetzt sah, zu den Einmaligkeiten seines Lebens gehörte.
«Mensch, Körner«, sagte er fassungslos, als der Assistenzarzt keuchend vor ihm stand.»Was machen Sie denn hier? Ich denke…«
Dr. Körner lehnte sich an einen vereisten Mauerrest. Als er mit der Hand über sein Gesicht fuhr, spürte er, daß die Schweißtropfen bereits zu harten Kugeln gefroren waren.
«Ich bin froh, wieder hier zu sein«, sagte er heiser.
«Wieso?«Stabsarzt Dr. Portner duckte sich. Auch Körner warf sich gegen die Wand. Neben ihnen krachte eine Mine in die Trümmer und wirbelte einige Körperteile durch den Schnee. Portner winkte ab, als Körner entsetzt zu den Gliedmaßen starrte.
«Volltreffer in Grabtrichter fünf«, sagte er.»Was wollen Sie eigentlich hier? Sagen Sie bloß, Sie seien schon wieder freiwillig in die Scheiße zurückgekehrt…«
«Das bin ich…«
«Sie verrücktes Nilpferd«, schrie Portner.»Jeder von uns faltet nachts heimlich die Hände und betet, daß er überlebt, und Sie Vollidiot…«