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Es war eine eisige Kälte, als sie ankamen. Über die Steppe jagte ein Eiswind und trieb den Schnee vor sich her. Räumkommandos kämpften dagegen an… sie fegten die Rollfelder sauber, damit die Transportmaschinen landen konnten… die wackeren Ju 52, die schnellen He 111 und die neuen Ju 86. Wie in Pitomnik waren es über hundert Mann, die die Maschinen entluden und dafür sorgten, daß keine Eisbuckel auf der Rollbahn entstanden, über die die startenden Maschinen stolpern konnten. Am Rande des Flugplatzes standen die Zelte der Verwundeten, die ein Billett um den Hals hängen hatten, auf ihren Ausflug aus dem Kessel warteten und davon träumten, morgen oder übermorgen gerettet zu sein, dem Leben wiedergegeben, dem Leben, das keine 60 Flugminuten weit entfernt war. 60 Flugminuten… aber für 300 000 eingeschlossene Männer so weit wie ein Platz auf dem Mond.

Dr. Portner meldete seinen Haufen bei der Kommandantur des

Feldlazaretts der 6. Armee. Als er die Bauernkate betrat, sah er Generalarzt Professor Dr. Abendroth hinter einem Tisch sitzen und Funksprüche studieren. Ein Oberarzt steckte auf einer an der Wand hängenden Gebietskarte von Stalingrad den Frontverlauf ab, nicht wie ihn der Wehrmachtsbericht meldete, sondern wie ihn die aufgefangenen Funksprüche der einzelnen Truppenteile deutlich darstellten.

Dr. Portner legte die Hand an die vereiste Mütze, aber Professor Abendroth winkte ab.»Ich kenne Sie, Portner… brauchen sich nicht vorzustellen. Hatten Sie einen guten Rückweg?«

«Nicht wie auf dem Ku-Damm, Herr Generalsarzt. Fünf Tote. Irgendein Rindvieh von der Artillerie beschoß uns, obwohl wir die Rote-Kreuz-Flagge an den Wagen hatten. Allerdings waren es russische Beutefahrzeuge…«

Professor Abendroth nickte.»Heute schießt man einfach auf alles, was russisch aussieht, östlich von Kalatsch gab es ein völliges Durcheinander. Da marschierte die Panzerschule Kalatsch mit sowjetischen Beutepanzern los und stak plötzlich mitten zwischen echten Sowjets. Und die Flakbatterien wußten überhaupt nicht mehr, auf wen sie schießen sollten, denn sie waren informiert, daß die deutsche Panzerschule mit sowjetischen Panzern fuhr. Erst als die Batterien von den Russen niedergewalzt wurden, war klar, daß es diesmal echte Sowjets waren. Tja, lieber Portner… der Mist ist vollkommen.«

Dr. Portner sah seinen alten Lehrer und Doktorvater fast mitleidig an. Da hockte der Chef einer großen Universitätsklinik in Generalsuniform im Kessel von Stalingrad, am Rande eines einsamen Steppenflugplatzes, und versuchte, in das Durcheinander seines ebenfalls überrollten und zersprengten Sanitätswesens Ordnung und damit ausreichende Arbeitsbedingungen zu bringen. Soweit die Truppenärzte über Verbände und Medikamente verfügten, wurde in Erdhöhlen oder Bauernkaten, Zelten oder Kellern, Trümmerbunkern oder Eisenbahnwagen operiert und gerettet, was zu retten war. Auf den abenteuerlichsten Wegen tauchten diese Verwundeten dann in Pitomnik oder Gumrak auf, die Gehfähigen zu Fuß, die Schwerverletzten mit Nachschubwagen oder Schlitten oder auch nur auf einem Brett, das die Kameraden an Bindfäden hinter sich her über die vereiste Steppe zogen. Auf den beiden Flugplätzen wurde dann aussortiert… die einen bekamen ihr >Lebensbillett< um den Hals, die anderen lagen herum, in den Erdhöhlen oder den russischen Güterwagen… eine Armee des Elends, um die sich kaum einer kümmern konnte, weil immer neue Transporte,von der Nordfront und aus der Stadt kamen und die Zelte und Erdbunker füllten wie Sardinenbüchsen.

In dem großen Eisenbahnwaggon-Lazarett auf dem Bahnhof Gumrak traf Dr. Körner auch Paul Webern, den katholischen Feldgeistlichen, der ihn in Pitomnik getraut hatte. Sie kamen auf einander zu, als seien sie alte Bekannte, und drückten sich die Hand.»Gott segne Sie«, sagte Pfarrer Webern.»Im ersten Augenblick hatte ich Sie nicht wiedererkannt. Die letzten Wochen haben uns um Jahre älter werden lassen. «Er stand vor einer Reihe Waggons, aus denen Stöhnen und lautes Sprechen hinaus in den eiskalten Tag drangen. Wie jeden Tag vor Beginn der Abenddämmerung, die schnell zur Nacht wurde, ging Pfarrer Webern noch einmal von Waggon zu Waggon, betete und tröstete, brachte Decken und Brot, die er tagsüber aus den einfliegenden Transportmaschinen organisierte. Er segnete die Gestorbenen und sprach mit den Sterbenden von der Schönheit der Ewigkeit in Gott.

Dr. Körner senkte den Blick. Die Erwähnung Gottes kam ihm in diesen Minuten irgendwie sinnlos vor. Er war als gläubiger Katholik erzogen worden, und er hatte in dieser stärkenden Welt des Glaubens gelebt, obgleich seine Umwelt und selbst sein eigenes Leben sich grundlegend änderten. Sein Onkel, der ihn aufzog, nachdem die Eltern bei einem Schiffsunglück ertrunken waren, war Parteigenosse und SA-Führer. Er brachte den ihm anvertrauten Hans Körner in die HJ und später in den NS-Studentenbund und bearbeitete ihn seit Jahren mit den verlockendsten Aussichten, die ein Arzt der Großdeutschen Wehrmacht habe. Die katholische Erziehung lief nebenher als zweites Gleis, wurde geduldet und nach außen hin verschwiegen. Sie war ein Vermächtnis von Professor Körner, dem Vater von Hans, der als Jurist die Größe christlichen Verzeihens erkennen und schätzen lernte.

Dies alles war durch ein Telegramm in Warschau zerbrochen wie eine morsche Mauer, hinter der sich bisher ein anderes Gebäude verborgen gehalten hatte… eine Welt voll Nihilismus und in Sarkasmus eingebettete Ratlosigkeit. Und jetzt sprach Pfarrer Webern von Gott, der ihn segnen sollte… es war wie Hohn und griff ihm doch an das Herz.»Es hat sich viel geändert«, sagte Dr. Körner leise. Er lehnte sich gegen einen der russischen Waggons und stellte den Kragen seines Mantels hoch. Pfarrer Webern schlug mit den Armen um seinen Körper; er fror, denn der dünne Mantel war alles, was er gegen die eisige Kälte und den Steppenwind trug. Seinen Lammfellmantel hatte er abgegeben… in ihn hatte man einen Verwundeten eingewickelt, der halbnackt aus einem Schlitten ausgeladen worden war. Er hatte die halbe Brust durch Minensplitter zerfetzt, auf dem Hauptverbandplatz mußte man ihm die Uniform vom Körper schneiden, hatte ihn operiert, so gut es ging, verbunden, in eine Decke gehüllt und auf den Schlitten gelegt zur Weiterfahrt nach Gumrak. Dort kam er halb erfroren an und war einer der glücklich Unglücklichen, die einen Fahrschein zum Flug in das Leben um den Hals gebunden bekamen.

«Sie sagen das so merkwürdig, Doktor?«Pfarrer Webern blies in seine vereisten Handschuhe.»Bitte, sagen Sie mir jetzt nicht, was ich schon tausendmal gehört habe und jeden Tag hundertmal immer wieder höre: Wo ist Gott? Warum läßt er Stalingrad zu? Warum verhindert er Kriege nicht? Das werde ich immer wieder gefragt, und immer wieder muß ich antworten: Daß es Kriege gibt und die Menschen sich hassen, ist ihre Abkehr von Gott. Wir sind geschaffen, einander zu lieben… daß wir uns totschlagen, ist das Erbe von Kain und Abel… Und daß wir denen gehorchen, die Mord predigen und nicht Frieden, ist ein Geheimnis der menschlichen Seele, das wir nie ergründen werden. «Pfarrer Webern sah Dr. Körner fragend an.»Verstehen Sie mich, Doktor?«

«Nicht mehr, Herr Pfarrer. «Körners Stimme war heiser und gepreßt. Er zeigte auf die Reihe der Güterwaggons, die überquollen von Verwundeten.»Was haben diese armen Kerle da getan? Hat man sie gefragt, ob sie nach Stalingrad wollten? Hat man sie überhaupt je gefragt?«

Pfarrer Webern schwieg. Mit beiden Händen umklammerte er das kleine Kreuz, das ihm vor der Brust hing und mit verharschtem Schnee überkrustet war.

«Gott segne Sie, Doktor«, sagte er leise. Aber der Wind riß ihm die Worte vom Mund und zerfetzte sie mit Heulen.

Kapitel 5

Am 1. Dezember schleppte sich ein junger Soldat durch die tobende Nacht. Er drückte sich gegen den Schneesturm, keuchend, mit weit aufgerissenem Mund, irren Augen und stampfenden, aber immer wieder einknickenden Beinen. Ab und zu fiel er in den Schnee und blieb so liegen, wie er hingefallen war… auf dem Rücken, mit dem Gesicht nach unten, auf der Seite. So lag er dann ein paar Minuten, schneite zu, wurde ein kleiner Hügel in der flachen Steppe, bis er sich wieder auf die Knie stemmte, sich an zwei dicken Knüppeln hochzog und weitertaumelte.