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Er lief nur des Nachts… am Tage verkroch er sich in ausgebrannten Scheunen, wühlte sich unter schwarzes Gebälk oder versteckte sich in Panzerruinen oder Überbleibseln von Lastwagen, die am Wegrand standen, verstreut über die Steppe, und die niemand kontrollierte. Dann schlief er einen betäubungsähnlichen Schlaf und sammelte Kraft für die wenigen Kilometer, die er in der Nacht, seitlich der befahrenen Straßen und Wege, wanderte. Seit drei Tagen war er unterwegs, und sein Ziel war Gumrak, der Flugplatz, das große Armeelazarett.

Sanitätsfeldwebel Wallritz hatte sich in einer Ecke des OP-Zeltes eingerichtet. Er schlief auf einer Trage, auf die er Stroh geschüttet hatte. Viel Zeit zum Schlafen gab es ohnehin nicht, denn Portner und Körner operierten in zwei Schichten. Neun Sanitäter waren ihnen neu zugeteilt worden, und Wallritz hatte die Aufgabe, nicht nur den reibungslosen Ablauf in den Lazarettzelten zu überwachen, sondern auch die neun Sanis so einzusetzen, daß zwei immer bei den Operationen zugegen waren, vier mit den Tragen unterwegs waren und drei sich um die Neuzugänge kümmerten und sie für die beiden Ärzte vorbereiteten. Um die Verwundeten, die aus dem Kessel geflogen wurden, kümmerte sich Dr. Portner selbst. Es war zweimal vorgekommen, daß er mit der Pistole in der Hand dafür gesorgt hatte, daß seine Verwundeten eine Transportmaschine bekamen.

In dieser Nacht war es ruhig. Der heulende Schneesturm ließ keine Transporte mehr durch. Irgendwo auf dem Wege von Stalingrad nach Gumrak waren die Sanitätsfahrzeuge festgefahren, suchten Schutz in Schluchten und im Tatarenwall oder wurden einfach eingeschneit.

Feldwebel Wallritz hatte sich gerade auf seine strohgefüllte

Trage gelegt und war dabei, einzuschlafen, als ein Windzug vom Eingang her die Notbeleuchtung aufflackern ließ. Wallritz richtete sich auf und sah gegen den Eingang eine dunkle Gestalt im Zelt stehen.

«Was ist, Knösel?«fragte er und gähnte.»Mensch, geh ins Stroh… oder haste wieder ’nen Elefanten gesehen?«

«Horst«, sagte eine leise Stimme.»Horst… bist du es…?«

Feldwebel Wallritz war einen Augenblick wie gelähmt. Dann schnellte er von seiner Trage hoch und drehte den Handscheinwerfer an. Voll traf der Lichtstrahl ein schmales, verzerrtes, eingefallenes, schneeverklebtes Gesicht. Ein Arm fuhr hoch und legte sich über die geblendeten Augen.

«Sigbart«, sagte Wallritz mit zugeschnürter Kehle.»Wo kommst du denn her…«

«Ich habe dich gesucht. «Der junge Soldat sank gegen den Küchentisch, auf dem Dr. Portner sonst operierte… dann knickten die Knie ein, und er fiel Wallritz in die Arme. Der Feldwebel schleppte den Jungen zu seiner Trage und legte ihn auf das Stroh und die Decken. Dann holte er eine Thermosflasche mit heißem Tee, eine Schüssel mit Schneewasser, riß die Uniform des Jungen vor der Brust auf und wusch ihm mit dem kalten Wasser das vereiste Gesicht, die Brust, die Schultern… er rieb, bis die fahlweiße Haut rot wurde und die Hand des Jungen sich hob und den Arm von Wallritz festhielt.

«Laß, Horst… es ist schon gut. Ich habe dich gefunden. mein Gott, hatte ich eine Angst, dich nicht zu finden.«

Er schlug die Augen auf und sah Wallritz fast glücklich an. Dann verdunkelten sich die Augen, und plötzlich weinte er, lautlos, mit zuckendem Gesicht. Er umklammerte die Hand des Feldwebels und kroch an ihn heran, als sei er ein Tier und suche Schutz.

«Woher weißt du, daß ich hier bin?«fragte Wallritz tonlos, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte.»Junge, wo kommst du überhaupt her?«

«Aus der Stadt…«Der junge Soldat hielt die Hände des Feldwebels fest, als könne er ohne deren Schutz ertrinken.»Ich war in der Funkbude… weißt du… ich bin doch Funker geworden… und da haben wir die einzelnen Funksprüche abgehört… und einer war darunter, der meldete, daß sich der HVP III mit Stabsarzt Dr. Portner absetzte… und ich wußte doch, daß du bei einem

Dr. Portner warst… im letzten Brief an Mutter hast du es geschrieben… und in der Nacht habe ich das Regiment angepeilt und gefragt, ob das stimmt… ob ein Feldwebel Wallritz auch nach Gumrak ist… Kumpel, das ist mein Bruder, habe ich dem anderen Funker gesagt, ich heiße auch Wallritz… ich habe meinen Bruder seit Mai nicht mehr gesehen… Ja, und dann war es so… ich wußte, daß du in Gumrak bist…«

Feldwebel Wallritz löste sich aus dem Griff seines Bruders und trank einen Schluck Tee. Seine Kehle war trocken und rauh, das Schlucken war, als müsse er den Speichel über ein Reibeisen pressen.

«Ja… und? Warum bist du jetzt hier? Bist du verwundet, Sigbart?«

«Nein. «Der Junge sah seinen älteren Bruder flehend an. Wie ein Kind, das etwas angestellt hat und nun um Verzeihung und um Verständnis bittet.»Ich bin desertiert…«

«Was bist du?«Wallritz spürte, wie es bis unter seiner Kopfhaut eiskalt wurde. Desertiert, dachte er. Das bedeutet Erschießen. Wegen Feigheit vor dem Feind. Auch im Kessel von Stalingrad arbeiten noch die Feldgerichte. Jeden Tag wird jemand hingerichtet… wegen Feigheit, wegen Plünderung, wegen Kameradendiebstahl, wegen Befehlsverweigerung… sie werden standrechtlich erschossen… zur Abschreckung für die Truppe… vor allem die Deserteure, die man eingefangen hat…

«Das ist doch nicht wahr, Sigbart«, sagte Wallritz leise.

«Doch, Horst. Ich bin einfach weg. Drei Tage bin ich schon unterwegs. Bis ich hierherkam. Hier hat mich keiner gefragt… und ich habe fünf Stunden gebraucht, bis ich dich fand…«

«Ja, bist du denn verrückt?«stotterte Wallritz entsetzt.»Du weißt doch, was passiert, wenn sie dich erwischen…«

«Sie werden mich nicht bekommen, Horst. Du wirst mir helfen. Du allein kannst mir helfen…«Es war wie ein Schrei. Wallritz legte die Hand auf den aufgerissenen Mund seines Bruders. Er drehte den Handscheinwerfer aus. Im Schein der blakenden Notleuchte sah er in die flimmernden Augen Sigbarts.

«Wie stellst du dir das vor? Helfen! Ich kann dich doch nicht bis Kriegsende verstecken! Mein Gott… was machen wir bloß… wie konntest du nur solch ein Idiot sein und desertieren?«

Sigbart Wallritz stützte sich auf die Ellenbogen. Er weinte wieder und lehnte den Kopf an die Brust seines älteren Bruders.

«Greif mal in die Tasche, Horst«, schluchzte er.»Innen, in die Rocktasche, oben links… Mutter hat geschrieben…«Er drückte das Gesicht in die Uniform Wallritz’ und brüllte in den Stoff.»Sie haben Vater abgeholt… in ein KZ… Er hat Luxemburg gehört und gesagt, daß wir den Krieg verlieren…«

Feldwebel Wallritz zog mit zitternden Fingern den zerknitterten, schmutzigen Brief seiner Mutter aus der Tasche Sigbarts. Man sah dem Brief an, daß er oft gelesen worden war und daß sich verzweifelte Finger in das Papier gekrallt hatten…

«… gestern haben sie Vater abgeholt. Zwei Männer von der SS. Er ist wortlos mitgegangen, was sollte er auch noch sagen? Er hat gestanden, was er getan und gesagt hatte. Dann war ich ein paar Stunden später bei der Gestapo und habe gefragt, was nun aus Vater würde. >Er kommt in ein Lager*, haben sie mir gesagt. >Dort wird er geschult und bekommt einen Begriff vom Nationalsozialismus. So ein alter SPD-Mann wie Ihr Mann kann sich eben noch nicht an die neue Zeit gewöhnen. Wir hätten ihn viel früher umschulen sollen. Aber dafür geht es_ jetzt um so schneller…< Das haben sie mir gesagt, und ich habe Vater nicht wiedergesehen. Aber ich glaube, daß alles nicht so schlimm ist. Wir haben ja unsere Jungen, hat Vater mir zum Abschied gesagt, als ihn die beiden SS-Männer abführten…«