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Sanitätsfeldwebel Wallritz ließ den Brief sinken. Sigbart sah ihn aus flatternden Augen an.

«Du kannst dir denken, was sie inzwischen mit Vater gemacht haben«, sagte er kaum hörbar.

Wallritz schwieg. Sein Kinn sank auf die Brust.

«Und warum bist du weg?«fragte er nach langem Schweigen.

«Ich muß nach Hause… ich muß zu Mutter…«

«Du bist verrückt, Sigbart. Von Stalingrad bis Berlin. Außerdem sind wir eingekesselt…«

«Du wirst mir helfen, Horst. «Sigbart Wallritz richtete sich hoch auf. Seine Stimme war nicht mehr weinerlich. Sie klang hart und anklagend.»Es ist deine Pflicht, mir zu helfen. Nicht als Bruder allein… es ist auch deine moralische Pflicht. Ich war nie ein Soldat oder ein Heilschreier… aber du warst es… Du warst erst Jungvolkführer, dann HJ-Führer, jeden Sonntag bist du losmarschiert, und Vater hat immer den Kopf geschüttelt und zu

Mutter gesagt: Wann wird er aufwachen… hoffentlich wird es dann nicht zu spät sein… Du hast mich gezwungen, in die H] einzutreten, weil du gesagt hast, es ist eine Blamage für dich, einen solch weichlichen Bruder zu haben… und ich bin mitmarschiert… Du hast mich überredet, mich freiwillig zum Militär zu melden, weißt du noch… bei deinem vorletzten Urlaub… du warst gerade Feldwebel geworden… und hast das EK getragen und hast dich bewundern lassen… Vater hat sich dagegen gewehrt, er hat dich sogar geschlagen, weiß du das noch… aber du hast immer gesagt: Wo ist denn mein Hosenmätzchen von Bruder? Wo ist denn der kleine Scheißer? Soll Mama dir die Brust geben? Da habe ich mich freiwillig gemeldet, und dann bin ich hierhergekommen, nach Stalingrad, in die Stadt, in der Helden geoacken werden, wie mein Kompaniechef sagte. Das alles hast du auf dem Gewissen… das Leid von Mutter, den Tod von Vater, die Zerstörung meines Lebens…«Sigbart riß den Bruder an der Schulter zu sich herum und starrte ihm in das bleiche, zuckende Gesicht.»Und du willst keine moralische Verpflichtung haben, mich hier herauszuholen…?«

«Aber wie denn, Junge? Wie denn?«stöhnte Wallritz.

«Mit einem der Flugzeuge…«

«Es werden nur Verwundete und Kranke herausgeflogen…«

Sigbart Wallritz ließ sich zurück in das Stroh fallen. Er hielt noch immer die Hände seines Bruders umklammert.

«Dann mach mich krank«, sagte er entschlossen.»Du hast die Möglichkeit dazu…«

Sanitätsfeldwebel Wallritz sah seinen Bruder entsetzt an. Der Brief lag zwischen ihnen auf dem Boden, wie ein dummer, kleiner Grenzstein, der zwei Welten trennt.

«Du bist verrückt«, sagte Wallritz heiser.»Du bist total verrückt…«

«Verrückt, weil ich leben will? Für Mutter leben? Nicht für das Vaterland, die Nation, die neue Generation… das sind doch alles dumme, blöde Schlagworte, die ihr uns eingeimpft habt und nach deren Melodie wir losmarschiert sind… bis nach Stalingrad. >Uns’re Fahne flattert uns voran…< Wo ist sie? Wo sind die Ideale, die ihr uns vorgegaukelt habt? Hier sterben Hunderttausende, in der Heimat liegen sie unter den Bomben oder kommen in die KZs, wenn sie sagen, was sie denken — wie Vater —, und du sitzt hier in einem Zelt, hast eine Binde mit einem Roten Kreuz um den Arm und fühlst dich als Retter der Hilflosen… Wer macht sie denn hilflos? Wer läßt ihnen denn die Glieder wegschießen? Wer füllt die Granattrichter mit Leichen und schreibt dann Briefe: Gefallen für Führer und Vaterland? Wer hat uns denn Hölderlin vorgelesen: >Schön ist’s, zu sterben fürs Vaterland..?< Wer denn? Ihr, die geborenen Uniformträger. Die Heilschreier. Die neuen Menschen. Und du hast mich in diesen Strudel hineingerissen… aber ich will wieder heraus… heraus… heraus…«

Seine Stimme war fast ein Schreien geworden. Wallritz drückte die flache Hand auf den Mund seines Bruders und schob ihn auf das Strohlager zurück.

«Halt den Mund, Sigbart… oder willst du an irgendeinem Telegrafenmast von Gumrak hängen? Du bist desertiert…«

«Ich habe mir nur die Freiheit zurückgeholt, die ihr mir genommen habt… weiter nichts.«

«Du hast einen Eid geleistet…«

«Ich fühle mich nicht daran gebunden, wenn ich diese Verbrechen um mich herum sehe.«

«Welche Verbrechen? Daß wir vielleicht eine Schlacht verlieren? Daß wir Stalingrad aufgeben müssen? Ist das ein Grund, kopflos wegzurennen und alles zu verdammen? Sind noch nie Schlachten verloren worden? Wenn Friedrich der Große bei Kunersdorf — «

«Hör auf! Hör auf!«Sigbart Wallritz warf die Arme hoch.»Thema: Der Alte Fritz. Heimabend der Gefolgschaft 3 am Freitagabend. Es ist zum Kotzen mit euch. «Er drehte sich auf die Seite und starrte seinen Bruder an.»Wenn du hier verrecken willst, für Führer und Vaterland, so ist das deine Sache, Horst. Ich aber will es nicht. Ich will weiterleben, weil Mutter sonst keinen mehr hat… Vater werden sie verschwinden lassen, du gehst in den schönen Heldentod, der dir ja Erfüllung deiner völkischen Aufgabe sein muß… aber Mutter? Was wird aus Mutter? An sie denkt keiner… keiner denkt bei den Kriegen an die Mütter sie sind für Staatsmänner und Militärs das Unwichtigste auf der Welt. Sie durften nur die Söhne gebären… sie durften sie aufpäppeln, ihnen das Gehen beibringen, das Essen, das Sprechen, das Beten… und wenn sie dann lange Hosen tragen, nimmt man sie ihnen weg, steckt sie in eine rauhe Uniform und sagt: So, jetzt seid ihr Deutsche. Ihr habt eine Tradition… im Marschieren und im Krepieren. Haltet sie hoch, diese Tradition… marschiert um die halbe Welt und krepiert in Ost und West, Nord und Süd. Wofür, das dürft ihr nicht fragen… ihr seid doch gute Deutsche, die gelernt haben, zu gehorchen und dem Leithammel nachzutrotten, auch wenn es in den Abgrund geht. Und vor jeder Silber- oder Goldlitze steht ihr stramm, vor jedem roten Streifen an den Hosen scheißt ihr euch vor Ehrfurcht in die grauen Hosen, und wenn ein Mann in die Menge brüllt: >Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts in der Welt< oder Deutschland erwache<, dann werdet ihr pervers und seid zum Selbstmord bereit. «Sigbart Wallritz schlug sich mit beiden Fäusten gegen die Stirn.»Daß du das nicht siehst, Horst… daß du so verbohrt bist…«

Feldwebel Wallritz schwieg. Er sah auf den Brief, der auf dem Boden lag, zwischen sich und seinem Bruder. Er sah die Schrift seiner Mutter, fühlte ihre vorsichtigen Worte und hinter ihnen die Qual, die niemand mehr auszusprechen wagte. Von dem Brief ging sein Blick zu Sigbart. Er lag auf dem Rücken, die Fäuste gegen die Brust gepreßt, und sein schmaler Mund zitterte vor wilder Erregung. Er sah verhungert und zerschunden aus, dreckverschmiert und abgerissen. Wenn Mutter ihn so sehen könnte, würde sie nicht zögern, ihn wie einen kleinen, gefallenen Jungen in die Arme zu nehmen und zu waschen und zu trösten. Er war ja immer noch >der Kleine<, der schmächtige, etwas verträumte, in sich blickende Sigbart, der nie Gefallen gefunden hatte an Zeltlagern und Aufmärschen, Fanfarenkorps und Parteitagen, Heimabenden und Morgenfeiern. Während Horst Wallritz marschierte und von den zitternden morschen Knochen sang, saß Sigbart am Fenster und las Gustav Freytags >Soll und Haben<.

Und jetzt lag er auf einer mit Stroh aufgefüllten Trage, in einem Zelt des Flugplatzes von Gumrak, von russischen Divisionen eingeschlossen, zum Sterben verurteilt… entweder durch ein Geschoß der Sowjets oder durch eine Kugel des deutschen Exekutionskommandos. Erschossen wegen Feigheit vor dem Feind, wie es amtlich hieß.

Feldwebel Wallritz schluckte krampfhaft. Die Ausweglosigkeit ergriff ihn wie mit Zangen und zerriß ihn fast. Er beugte sich über seinen Bruder und sah ihm in die unruhigen, flatternden Augen.

«Wie hast du dir das alles gedacht, Sigbart?«fragte er leise. Er versuchte, seiner Stimme Festigkeit zu geben, aber sie schwankte doch hörbar.

«Ich will ’raus, Horst. Nur ’raus aus dem Kessel. Ich weiß ja, du selbst kannst nicht… einmal, weil du für dein Heilschreien geradestehen mußt, wenn du Charakter hast… und zum anderen, weil du Sanitäter bist. Du mußt bei deinen Verwundeten bleiben. Aber ich? Welche Verpflichtung habe ich außer der, weiterzuleben für Mutter?«Er ergriff wieder die Hände Horsts und klammerte sich an ihnen fest.»Du mußt mir einen Platz in einem Flugzeug besorgen, Horst.«