«Die Ausflugzettel hat Dr. Portner. Er allein stellt sie aus.«
«Dann geh und organisiere einen.«
«Das ist Diebstahl.«
«Du stiehlst damit mein Leben zurück, Horst. Vielleicht auch das Leben von Mutter…«
Feldwebel Wallritz senkte den Kopf tief auf die Brust. Er wußte auch, daß sie gebündelt unterschrieben waren, Blankoschecks für das Leben. Man mußte nur die Verwundungsart ausfüllen und das Datum, den Namen und das Geburtsdatum.
Die Zettel lagen in einem kleinen eisernen Kasten, im Verbandszelt in der hinteren Ecke, die Portner sarkastisch >Lazarett-büro< nannte. Und es war der Sanitätsfeldwebel Wallritz, der jeden Tag die Zettel ausfüllte und sie den Verwundeten um den Hals hängte, um diese glücklichen, strahlenden Gesichter, in denen man las: Wir werden leben. Leben. Wenn auch nur mit einem Bein, einem Arm, einer zerfetzten Brust, einem durchlöcherten Magen, einer zerrissenen Lunge, einer abgerissenen Schädeldecke… Wir werden leben.
Wallritz stand auf und befreite sich aus dem Griff seines Bruders. Sigbart stützte sich auf die Ellenbogen.
«Wo willst du hin?«fragte er, plötzlich ängstlich.
«Bleib liegen und verhalt dich still. Und wenn jemand kommen sollte, mach die Augen zu und stöhne etwas… dann glaubt jeder, du seist eine Neueinlieferung. «Er wischte sich über das Gesicht und spürte dabei, daß er trotz der Kälte, die auf der Zeltleinwand lag und gegen den blubbernden Eisenofen kämpfte, schweißnaß war.»Ich komme gleich wieder.«
Er zog seinen Mantel an, schlug den Kragen hoch, band die Feldmütze mit einem Schal fest um den Kopf und verließ das Zelt.
Durch die Nacht tobte wieder der Schneesturm von den Steppen Kasachstans. Der Wind heulte um die Holzhäuser und Zelte, Eisenbahnwaggons und Baracken und trieb die ungeheuren Schneemassen an den Wänden hoch zu Wällen. Der Flugbetrieb ruhte völlig, die Rollbahnen waren glattgefegte Eisflächen, über die der Schnee in weißen Schwaden wirbelte.
Wallritz blieb einen Augenblick stehen, um sich an die Kälte zu gewöhnen. Der Schweiß auf seinem Gesicht gefror sofort zu kleinen, stechenden Kristallen, die er mit ein paar Handbewegungen abzustreifen versuchte. Dann senkte er den Kopf, stemmte sich gegen den Schneesturm und rannte und stolperte zu dem großen Verbandszelt, das im Schutze von zwei alten Kesselwagen aufgebaut war und dadurch nicht unmittelbar im Wind stand.
Durch die Leinwand schimmerte noch ein schwaches Licht. Feldwebel Wallritz blieb stehen und überlegte. Es war unmöglich, einen Zettel wegzunehmen, wenn Dr. Portner noch arbeitete. Umkehren aber wollte er auch nicht, es wäre auch sinnlos gewesen. Sigbart Wallritz mußte in der Masse der zum Ausflug bereitgestellten Verwundeten verschwunden sein, ehe am Morgen die normale Lazarettarbeit begann. So lief Wallritz weiter, fiel über einen verschneiten Balken, rappelte sich wieder auf und klopfte im Schutz der Kesselwagen seine Uniform vom Schnee frei, ehe er das große Verbandszelt betrat. Dr. Portner war nicht anwesend, aber Assistenzarzt Dr. Körner verband auf einem Küchentisch, der als zweiter OP-Tisch diente, einen Kopfverletzten. Vier Tragen standen neben dem Tisch. Auf ihnen lagen Verwundete, die auf ihre Versorgung warteten. Zwei fremde Sanitäter saßen neben dem Ofen und tranken aus einem Blechbecher heißen Tee. Knösel half beim Verbinden, ebenso ein Sanitätsobergefreiter, der Nachtdienst hatte. Mit einem Sanka waren diese vier Schwerverletzten eingeliefert worden; sie hatten Glück gehabt und waren im Schneesturm nicht steckengeblieben wie die anderen Wagen, die irgendwo herumlagen zwischen Stalingrad und Gumrak, am Tatarenwall oder in der Gontschara-Schlucht. Stabsarzt Dr. Portner saß bei einer Besprechung in der zentralen Verwaltungsstelle Gumrak und kämpfte für seine Verwundeten um Plätze in den Flugzeugen.
«Gut, daß Sie kommen, Wallritz«, sagte Dr. Körner, als er nach dem kalten Windzug blickte, der mit Wallritz in das Zelt strömte.»Dort liegt ein Bauchschuß… Sie müssen narkotisieren…«Er nahm aus der Hand Knösels die Leukoplastrolle und verklebte den Kopfverband.»Ich hätte Knösel sowieso zu Ihnen geschickt…«
Wallritz antwortete nicht. Er zog seinen Mantel aus, wusch die
Hände in heißem Schneewasser und tauchte sie dann in eine flache Wanne mit einer Lysoformlösung. Das war zwar eine mehr symbolische Desinfektion, aber es war nichts anderes vorhanden.
Eine Stunde arbeiteten sie still, fast wortlos. Sie versorgten die Schwerverwundeten, soweit es ihnen möglich war, wechselten die Notverbände, gaben Tetanusinjektionen, spritzten schmerzstillende Mittel und reinigten die Wunden. An eine gründliche Operation war nicht zu denken, dazu fehlten die Mittel und die Instrumente. Man konnte nur wegschneiden, amputieren, reinigen, Projektile herausnehmen… was darüber hinausging, mußte die Natur selbst heilen.
Feldwebel Wallritz stand neben dem eisernen Kasten mit den >Lebensbilletts<. Er sah zu Dr. Körner hinüber, der die letzte schmerzstillende Injektion gab. Eine große Ruhe war über ihn gekommen. Er sah auf die Zettelstapel unter seinen Fingern. Es war einfach, einen wegzunehmen und die vorgestrichelten Rubriken mit dem Namen auszufüllen.
Sigbart Wallritz… Funker…
«Alle ausfliegen?«fragte Wallritz. Dr. Körner sah über die Tragen.
«Ja. Mehr als zurückschicken kann man nicht. Schreiben Sie die Zettel aus.«
Er wandte sich ab, ging zum Waschbecken und schrubbte seine blutverschmierten Hände. Irgendwo mußte in den Gummihandschuhen ein Loch sein, Knösel sollte sie morgen früh untersuchen und kleben… es würde bald eine Zeit geben, wo Gummihandschuhe so knapp waren wie Brot und sauberes Wasser.
Feldwebel Wallritz sah auf die Soldbücher, die auf dem >Büro-tisch< lagen, die Soldbücher der noch in Narkose schnarchenden Verwundeten. Er nahm nach einem kurzen Blick zu Dr. Körner fünf >Lebensbilletts< aus dem Kasten statt vier und legte sie übereinander. Dann füllte er sie aus… Kopfschuß, Zertrümmerung linkes Schläfenbein… Bauchschuß, Durchschuß des Magenausganges (ein roter Strich in der Ecke, dringender Operationsfall)… Zertrümmerung des Schulterblattes durch Explosivgeschoß…
Und dann füllte er den fünften Zettel aus. Sigbart Wallritz… geb. 25. 5. 1923… Schußzertrümmerungsfraktur linker Oberarm und Schultergelenk, Radialis- und Mediaiislähmung. In die rechte obere Ecke setzte er in Rot ein großes G. Das bedeutete >gehfähig«. Für diese Verwundeten, die nicht liegend transportiert zu werden brauchten, gab es immer wieder eine Ecke, in die sie sich quetschen konnten, um mit den Flugzeugen in Sicherheit zu fliegen.
Die beiden fremden Sanis begannen, die Tragen einzeln wegzutragen in die Wartezelte am Bahngleis. Knösel dirigierte sie. Seit er seine Truppe in den Trümmern von Stalingrad nicht wiedergefunden hatte, war er auf Wunsch Dr. Portners fest dem Lazarett zugeteilt worden. Er galt als >vereinnahmter Verspreng-ter<.
Wallritz wartete, bis Dr. Körner gegangen war. Dann steckte er den fünften Zettel in die Manteltasche, band den Schal wieder um die Feldmütze und die Ohren, nickte dem wachhabenden Sani, der mißmutig am Ofen saß und hartes Brot knabberte, zu und lief durch den Schneesturm zurück zu seinem Zelt.
Sigbart lag mit dem Kopf zur Zeltwand und begann leise zu wimmern, als er Schritte hörte. Feldwebel Wallritz riß den Schal vom Kopf und klopfte ihn aus.
«Ich bin’s«, sagte er.
«Gott sei Dank. «Sigbart warf sich herum und setzte sich.»Ich hatte schon Angst, daß irgend etwas passiert sei. Wo warst du so lange?«
«Ich mußte operieren helfen.«
«Hast du den Zettel?«