Im großen Keller hatte die Aussortierung begonnen. Die Reihen wurden einen Augenblick lückenhaft. Aber dann begann ein reger Pendelverkehr. Für jeden Körper von unten kam ein neuer Körper von oben… es war wie eine Paternosterfahrt durch einen Keller: Auf der einen Seite fuhren die wimmernden Körper in die Tiefe, auf der anderen Seite kamen sie steif wieder ans Licht und wurden säuberlich in einem großen Trichter aufgeschichtet. Es war eine Routine des Sterbens, die niemand mehr ergriff.
In dem kleineren Kellerraum ging die Arbeit weiter. Verbände, Amputationen, Herausoperieren von Steckschüssen, Tetanusspritzen, Morphium, Herzmittel, Kreislaufstützen… Feldwebel Wallritz ging jetzt im großen Keller von Mann zu Mann und wählte aus, wer in den Operationsraum durfte.
Ober ihnen bebte die Erde und krachte es unaufhörlich. Vierhundert Meter entfernt lag der berühmte >Tennisschläger<. Seit Wochen berannte man ihn, verbluteten drei Pionierbataillone in den Häuserruinen, konzentrierte sich das Feuer von Artillerie und
Minenwerfern auf diesen kleinen Fleck inmitten Stalingrads; und wenn man glaubte, jetzt lebe nicht einmal mehr ein Käfer, krochen aus den Kellern die Sowjets und warfen sich den Deutschen entgegen wie ausgehungerte, brüllende Wölfe. Inmitten dieses Chaos lag der Lazarettkeller Dr. Portners. Er bekam die frisch Verwundeten genauso herein wie die vom Staub unkenntlich gewordenen, notdürftig Verbundenen, die man in Löchern und an Hauswänden vergessen hatte, zurücklassen mußte oder erst nach Tagen entdeckte.
Ohne Unterbrechung donnerte und explodierte es über ihnen. Wenn es einmal still wurde, so, als schöpften die Kanoniere Atem, sah man nach oben an die Kellerdecke und wartete unruhig. Ruhe war immer gefährlich. Solange es krachte, wußte man, woran man war. Aber plötzliche Stille ließ jeden hellwach werden.
In eine solche Stille hinein polterte ein Mann die Treppe herunter. Er lief in die Arme von Feldwebel Wallritz, der einen Leichtverwundeten auf der Treppe verband.
«He! Halt!«Wallritz hielt den Soldaten fest.»Drunten ist's voll genug! Wo hat's dich erwischt? Bist ja noch flott aufn Beinen!«
Ein breites, fast schwarz durch Ruß und Dreck verschmiertes Gesicht grinste Wallritz an.»Hänschen ist wohlauf!«sagte der Soldat.»Ich muß zu Assistenzarzt Dr. Körner — «
«Der operiert, du Idiot! Was ist los? Mach die Klappe auf.«»Obergefreiter Hans Schmidtke, abkommandiert durch Funkspruch aus Pitomnik, Herrn Assistenzarzt Dr. Körner sofort nach Pitomnik zu bringen.«
Wallritz hörte mit dem Verbinden auf.»Warum das denn?«»Befehl vom Feldlazarett. Der Assistenzarzt soll heiraten.«»Was soll er?«Wallritz sah den Obergefreiten Schmidtke kritisch an.»Wohl 'n bißchen blöd, was? Hier ist die chirurgische Abteilung… Dachschäden gehen am besten zum >Tennisschlä-ger< und machen eine Bleikur…«
«Da komm ick jerade her! Die hab'n mir jesagt, ick sei zu intelligent für'n Massengrab! Übrigens — Freunde nennen mich Knö-sel. Deswegen!«Schmidtke nahm aus der Tasche eine alte, am Mundstück zerkaute, klebrige, kleine Hängepfeife und steckte sie zwischen die Lippen.»Ick wär 'n viel lebenslustigerer Junge, wenn de mir 'nen Krümel Machorka abdrücken könntst…«
Feldwebel Wallritz verband stumm den Leichtverwundeten zu Ende.»So«, sagte er dann.»Zwei Keller weiter, unter der Ruine mit dem hohen Kamin, liegt die Sammelstelle der Gehfähigen! Hau ab, Kumpel! Aber mach 'nen Bogen zur Siedlung hin.. Die Iwans können ein' Teil einsehen…«
Erst als der Verwundete über die Treppe nach oben verschwunden war, wandte sich Wallritz wieder zu Schmidtke um.
«Sie sind ja noch immer da, Knösel!«
«Ick muß zum Assistenzarzt. Wenn der die Hochzeitsnacht verpaßt… ick will nicht schuld sein! So wat bleibt doch haften…«
«Lassen Sie den Blödsinn, Mann!«brülle Wallritz.»Ich habe den Keller voll Sterbender, und der Kerl — «
Knösel nahm seine Hängepfeife aus dem Mund.»Ich kann doch nischt dafür, Herr Feldwebel. Ick hab' meinen Befehl…«
«Mitkommen!«schrie Wallritz.
«Na also…«
Im kleinen Keller lag auf dem Küchentisch ein braungebrannter, langer Mann auf dem Bauch und biß sich vor Schmerz in den Unterarm. Dr. Portner holte mit einer Pinzette kleine Granatwerfersplitter aus dem Rücken. Wo sie zu tief saßen, machte er einen Schnitt und holte den Splitter aus der Tiefe der Rückenmuskeln. Er hatte dabei den Rücken nur mit Jod eingepinselt und vorher gesagt:»Ich brauche die schmerzstillenden Spritzen für die großen Sachen. Sie müssen jetzt mal den Hintern fest zusammenkneifen und etwas aushalten! Sind Sie verheiratet?«
«Ja, Herr Stabsarzt«, hatte der Verwundete mit ängstlichen Augen geantwortet.
«Kinder?«
«Drei.«
«Sehen Sie!«Dr. Portner hatte auf den Tisch gezeigt.»Hinlegen. Auf 'n Bauch! Und denken Sie gleich daran, daß Ihre Frau dreimal größere Schmerzen gehabt hat als Sie! Wenn Sie schreien, nehme ich Sie auseinander!«
Nun lag der Mann auf dem Bauch, biß sich in den Unterarm, stöhnte verhalten und rollte mit den Augen. Dr. Portner und Dr. Körner sahen unwillig auf, als Knösel in den Keller polterte und die Hacken zusammenknallte.
«Idioten sammeln sich in Keller fünf!«brüllte Dr. Portner.»Wallritz! Was soll das? Der macht Männchen, während rundherum alles krepiert!«
«Obergefreiter Schmidtke, abkommandiert, um Herrn Assistenzarzt Dr. Körner nach Pitomnik zu bringen«, meldete Knösel. Er legte dabei sogar die Hand an den gekalkten Helm.
Stabsarzt Dr. Portner legte die Pinzette auf den Rücken des Verwundeten und drückte eine Lage Mull auf einen frischen, stark blutenden Schnitt.
«Nach Pitomnik? Wieso?«Er blickte zu Körner.»Wissen Sie was davon?«
«Nein, Herr Stabsarzt.«
«Wer hat den Befehl gegeben?«
«Er ist dreimal bei der Funkstelle V eingetroffen. Einmal vom Herrn Generalarzt, einmal von Herrn Oberst von der Haagen und einmal von Herrn Pfarrer Webern…«Knösel las es von einem Zettel ab, auf dem er alles notiert hatte.»Der Herr Assistenzarzt soll doch morgen heiraten…«
Dr. Hans Körner wischte sich verwirrt über die Augen. Seine blonden Haare klebten verschwitzt an dem schmalen Kopf.»Mein Gott«, sagte er leise.»Der wievielte ist denn heute?«
«Der einunddreißigste Oktober. «Dr. Portner lachte plötzlich.»Natürlich! Am ersten November heiraten Sie ja! Das haben Sie wohl ganz verschwitzt…«Er ging um den Tisch und band Körner eigenhändig die OP-Schürze ab.»Schluß jetzt, Körner… für drei Tage sind Sie Hochzeiter, nicht Todesengel! Lassen Sie mich der erste sein, der Ihnen gratuliert. Hoffentlich bekommen Sie bald Urlaub, um dem Führer einen strammen Sohn zu zeugen!«
Hans Körner schluckte. Er schüttelte die Hände von Dr. Portner und Feldwebel Wallritz, aber er tat es mechanisch und spürte kaum den Druck ihrer Finger. Auch ihre Worte rauschten an ihm vorbei wie das ständige Geknatter der Maschinengewehre oben in der Trümmerwüste.
Marianne, dachte er. Ich habe dich vergessen. Kann man das begreifen, wo es nichts auf der Welt gibt, was mein Herz so beschäftigt wie du? Morgen werden wir Mann und Frau sein… über zweitausend Kilometer hinweg… wovon wir träumten, beim letzten Urlaub noch, im Schilf liegend und über die sonnige Fläche des Sees blickend, umschlungen und auf den Herzschlag des anderen lauschend, eingebettet in eine Wolke von Glück, auf der alle Erdenschwere von uns abfiel, das ist nun Wahrheit. Morgen, am ersten November 1942. Auf dem Flugplatz Pitomnik bei Stalingrad. Ich werde ja sagen, und du wirst ja sagen… zweitausend Kilo-meter entfernt, in Köln… und wir werden Mann und Frau sein… Das alles hatte ich vergessen, bis zu dieser Minute… Die Sterbenden nehmen die Gedanken mit…
«Hauen Sie ab, Körner!«Die Stimme Dr. Portners riß Körner aus seinen Gedanken.»Und kommen Sie mir gesund zurück! Vor allem — kommen Sie erst mal heil nach Pitomnik. Meine Hochzeitsgabe müssen wir aufsparen bis nach dem glorreichen Sieg!«