«Gehen wir, Genossen«, sagte er ganz ruhig. Als erster kroch er voraus in die Ruinen, und obwohl jeder von ihnen wußte, daß mindestens einer fallen würde und jeder dieser eine sein konnte, zögerte keiner, sondern sie alle schlurften durch die zerplatzten und zermahlenen Steine, schoben sich unter Balken hindurch und zwängten sich durch Mauerritzen.
Im Hof der Konservenfabrik feuerten wieder die drei deutschen Geschütze. Es waren neue Kanonen, mit Spreizlafetten, wie Kai-jenin feststellte, als er durch ein Loch der Hofmauer spähte und direkt in die qualmenden Mündungen starrte. An einem Küchentisch saß zwischen den Geschützen ganz gemütlich ein Offizier, ein junges, schlankes Kerlchen, und hatte eine Karte vor sich ausgebreitet und einen Schußwinkelberechner. Anhand der Karte rechnete er die Ziele aus, gab die Werte durch, die Zielkanoniere kurbelten die Schußwinkel ein, und dann donnerte es wieder und spie den Tod in die sowjetischen Keller und besetzten Häuser.
«Wir dürfen nicht danebenwerfen, Genossen«, sagte Kaljonin. Er sprach laut, denn im Hof konnte ihn niemand hören.»Jeder nimmt sich ein Geschütz, und weil wir sechs sind, kommen zwei auf jede Kanone.«
Sie nickten, legten ihre geballten Ladungen zurecht und warteten. Der junge deutsche Offizier rief wieder ein paar Zahlen, die Rohre schwenkten etwas zur Seite und in die Höhe, Granaten und Kartuschen wurden eingeschoben…»Im gleichen Augenblick, wenn sie feuern«, sagte Kaljonin ganz ruhig.»Dann gucken sie zur Seite… und werft die Dinger neben die Rohre…«
Die Richtkanoniere hoben die Hand. Der junge Offizier streckte den Zeigefinger in die Luft, als sei er ein warnender Lehrer. Kaljonin hielt den Atem an. Er starrte den jungen Mann an. Es ist schade um dich, Freundchen, dachte er in diesem kurzen Augenblick. Du und ich, wir haben noch so viel vor im Leben. Aber es ist Krieg, und du sitzt da und tötest meine Brüder. Es ist schade, Freundchen… viel lieber säße ich mit dir an einem Tisch und tränke einen Wodka.
Der Offizier ließ den Zeigefinger sinken. Im gleichen Augenblick spien die Rohre Feuer und bäumten sich auf. Gleichzeitig aber, als sei auch er an der Schußleine befestigt, war Kaljonin emporgesprungen und hatte unter gleichzeitigem Abziehen der Reißleine die geballte Ladung weggeworfen. Sie fiel vor dem mittleren Geschütz in den Schnee, nicht weit davon ein zweiter, dunkler Ballen, wie ein runder Stein, stumm, dunkel, in sich den Tod, der wenige Sekunden wartete.
Qualmend fielen die Kartuschen aus den aufgerissenen Verschlüssen, eine neue Granate lag in der Hand des Ladeschützen, der junge Offizier suchte schon ein neues Ziel auf der Karte.
«Jetzt«, sagte Kaljonin.»Jetzt…«
Sie duckten sich, und dann brach vor ihnen die Hölle auf, fast gleichzeitig explodierten die sechs geballten Ladungen und rissen die Geschütze um, zerfetzten die Leiber und jagten den mit einer Zeltplane abgedeckten Kartuschenstapel in den bleiernen Himmel. Wildes Geschrei gellte über den Fabrikhof, tierisches Schmerzgebrüll, der langgezogene Ruf >Sanitääääter< und ein mehrstimmiges Stöhnen, als sich die Explosionswolke senkte.
Kaljonin blickte über die Mauer. Es gab keine drei Kanonen mehr. Ein Gewirr zerfetzten Stahls bedeckte den Hof; dazwischen lagen die Gestalten der Kanoniere oder krochen die Verwundeten schreiend zu einem Kellereingang im Hauptgebäude der Fabrik. Von dem jungen Offizier und seinem Tisch sah man nichts mehr… wo er gesessen hatte, war ein kleiner schwarzer Trichter, als habe ein Riesendaumen in die Erde gedrückt. Weiter nichts. Kaljonin starrte auf den dunklen Fleck, bis ihn ein krummbeiniger Reiter aus Ulan Bator anstieß.
«Was ist, Genosse Sergeant?«
«Nichts, Brüderchen, nichts. Es war nur ein Gedanke. Gehen wir…«
Sie krochen zurück, aber es war ein schwererer Weg als zuvor. Die Deutschen waren wild geworden. Überall schoß man, Gestalten huschten wie Fledermäuse durch die Ruinen, ab und zu hörte man einen lauten Schrei, dann das Hämmern der MGs und das helle Bellen der Maschinenpistolen. Und die Artillerie schoß, aber nicht die deutsche, sondern die sowjetische, und sie schoß genau dahin, wo Kaljonin und seine Männer durch die Trümmer hetzten, mit heraushängender Zunge und keuchendem Atem, stolpernd, springend, fallend, kriechend, sechs um ihr Leben rennende Menschen, die plötzlich ängstlich waren, nachdem sie ihre Tat vollbracht hatten.
«Die eigenen schießen auf uns«, schrie der Krumme aus Ulan Bator. Er blieb hinter einem Mauerrest stehen. Vor ihm schwankte der Junge aus Irkutsk, warf die Arme hoch und fiel auf das Gesicht. In seinem Rücken qualmte ein großer Splitter, und es roch nach verbranntem Fleisch.»Die eigene Artillerie, Sergeant…«Um sie herum war jetzt eine Feuerwand. Es stimmte nicht, was Major Kubowski gesagt hatte, daß man hinten nicht wüßte, wo die drei deutschen Geschütze standen. Jetzt hämmerte die schwere sowjetische Artillerie von jenseits der Wolga in die Stadt und genau auf das Stadtviertel das Kaljonin so mutig durchsprungen hatte.
Die fünf preßten sich an die Ruinen und starrten in die Hölle. Fast systematisch wurden die Trümmer durchgepflügt… es war wie eine Maschine, die die Erde perforierte.
«Sie schießen gut, die Brüderchen«, keuchte Kaljonin. Er blutete an der Stirn, ein herabfallender Stein hatte ihn getroffen. Der krumme Reiter aus Ulan Bator hieb mit der Faust gegen die Mauer.
«Es ist kein schöner Tod, von den eigenen zerrissen zu werden!«schrie er. Kaljonin winkte den anderen zu.
«Lauft, Genossen!«brüllte er.»Jeder für sich. Im Keller des Kleiderlagers treffen wir uns…!«
Er wartete, bis die anderen durch Rauch und Steinstaub, aufwirbelnde Erde und niederstürzende Ruinen davongehetzt waren. Dann sprang auch er hinter der deckenden Mauer hervor und lief geduckt in die Feuerwand hinein. Als er es mehrfach dumpf orgelnd heranbrausen hörte, sprang er mit einem wilden Satz in ein Loch, das sich vor ihm öffnete, rollte eine steile Treppe hinunter in einen nassen, handhoch mit Wasser gefüllten Keller und platschte über den glitschigen Boden gegen eine Wand. Gleichzeitig schlug es über ihm ein, drei Riesenfäuste stampften die Erde über ihm zu, über die Kellertreppe quoll eine Wolke gelblichen Rauches hinab, und hinter ihr kamen Geröll und erstickender Staub.
Kaljonin warf sich mit dem Gesicht nach unten in das stinkende Wasser auf dem Kellerboden. Er hielt den Atem an, so lange es ging… dann hob er den Kopf etwas, machte einen neuen Zug, schluckte Rauch und Staub und drückte das Gesicht wieder in das Wasser. Das machte er mehrmals, bis sich die Luft etwas gereinigt hatte und die Wolke unter der Decke entlangglitt wie ein gelber Schleier. Da setzte er sich auf, lehnte den Rücken an die nasse Wand, tauchte ein Taschentuch in das Wasser und preßte es gegen den Mund. Durch diesen Filter konnte er atmen, ohne husten zu müssen.
Er sah sich um. Die Kellertreppe war verschlossen mit dicken Steinen und Mauerresten. Bis oben hin mußte sie vollgestopft sein, denn nichts rollte mehr nach. Durch ein paar Ritzen zog der Rauch langsam ab, aber an der Trägheit erkannte Kaljonin, daß über ihm ein ganzes Haus liegen mußte, das kaum Luft in den Keller ließ.
Er war verschüttet, und Kaljonin wußte, was das bedeutete. Er stemmte sich an der glitschigen Wand hoch und spürte, daß seine Rippen und sein Rücken von dem Sturz schmerzten und sein Nacken anzuschwellen begann und die Bewegung des Kopfes einengte.
Langsam ging Kaljonin die Wand entlang bis zur Ecke, dann die andere Wand… die Ecke… die dritte Wand… die Ecke… die vierte Wand… Es war ein großer viereckiger Keller, massiv und zum Teil mit Flußsteinen aus der Wolga gebaut. Ein guter, ein vorzüglicher Keller, der Jahrhunderte überleben konnte.
Wieder ging Kaljonin von Wand zu Wand, seine Stiefel patschten durch das Wasser. Er schritt sein Grab ab…
Kapitel 6
Mit der neunzehnten Ju 52, die sich drei Tage später vom vereisten Flugfeld von Gumrak abhob und nach Morosowskaja außerhalb des Kessels flog, kam auch der Funker Sigbart Wallritz mit.