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Nachdem er seinen Zettel um den Hals trug und in der Masse der Wartenden herumhockte, fragte ihn niemand mehr, woher er kam. Ein Stabsarzt kontrollierte nur vor jedem Flug die >Lebens-billetts< und wählte aus den darauf verzeichneten Verwundungen diejenigen Fälle aus, die er als besonders dringend ansah. Zuerst kamen die liegend Transportfähigen an die Reihe, die Schwerverletzten, die Amputierten, Bauchschüsse, Rückenmarkverletzten, Lungenschüsse… dann wurden, um die Ecken auszufüllen, die Gehfähigen aussortiert. Hier ballte sich eine Masse zusammen, die bald zu einem Problem werden sollte. Noch war sie voller Hoffnung, auch wenn die letzte Zählung 12 000 Verwundete ergab, die in und um Gumrak herum lagen und warteten.

Zwischen Dr. Körner und Feldwebel Wallritz war kein Wort mehr über den Vorfall gewechselt worden… erst, als Sigbart ausgeflogen war, sagte Wallritz in einer Operationspause leise:

«Er ist weg…«

«Und was macht er jenseits des Kessels?«

Wallritz hob die Schultern. Es war eine Frage, die niemand beantworten konnte. Zwischen Morosowskaja und Berlin lagen einige tausend Kilometer Rußland und Polen, und wer nüchtern dachte, mußte sich sagen, daß ein heimlicher Weg vom Don bis zur Spree die Hoffnung eines Irren war.

Sigbart Wallritz dachte daran nicht. Er hockte neben der Trage, auf der ein Blindgeschossener lag, und das Schütteln und Schwanken des Flugzeuges war ihm wie ein tänzerisches Schweben. Auch als sie über die russischen Linien flogen, die den Kessel von Stalingrad umklammerten, und von sowjetischer Flak unter Feuer genommen wurden, kam in ihm keine Angst mehr auf oder der Gedanke, daß er noch immer über dem Tod schwebte. Er war völlig sicher, von jetzt ab das Leben gewonnen zu haben, und betrachtete das Explodieren der Flakgranaten wie einen Abschiedsgruß der

Hölle.

Ein Unteroffizier der Luftwaffe erschien an der eisernen Tür zur Flugzeugführerkabine.

«Herhören«, brüllte er durch den Motorenlärm.»Alle Geh-

fähigen melden sich in Morosowskaja im Auffanglager des Standortlazaretts. Es liegt am Ende des Flugplatzes. Die Sankas sind nur für die Liegenden.«

Sigbart Wallritz lächelte vor sich hin. Erst einmal landen, dachte er. Dann sehen wir weiter.

Donnernd rauschte die klobige Ju 52 unter dem Winterhimmel dahin. Die Wolken hingen tief, schwer von Schnee. Bis Morosowskaja waren es noch zwanzig Minuten.

Am linken Motor, fast unmittelbar unter der Drehschraube des Propellers, befand sich ein kleines Loch. Noch sah es keiner, aber aus diesem Loch tropfte Benzin, und dann waren es ein paar Funken, die herausstoben und die aufgesaugt wurden von den weißgrauen Wolkenballen, die sie durchstießen.

Im Inneren der Ju herrschte fröhliche Stimmung. Mitten unter den Tragen hockte ein Landser mit einem wochenlangen Bart, die Brust dick umwickelt mit Verbänden, die an einigen Stellen durch-

feblutet waren und große dunkelrote, fast braune, harte Flecke ildeten. Er hatte eine Mundharmonika an die Lippen gepreßt und spielte, und jedesmal, wenn er Atem holte, pfiff es in ihm, als habe er keine Lungen, sondern einen defekten Blasebalg in der Brust.

«In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn«, spielte er. Und alle, die es hörten, empfanden es als das schönste Lied, das je gesungen wurde.

Sie flogen in die Freiheit, sie flogen in das Leben, sie hatten Stalingrad überlebt.

Aus dem kleinen Loch hinter dem linken Propeller huschte jetzt Rauch… er wehte über den Motorblock wie ein dunkler, unheilvoller Nebel…

Nun sah es auch der Pilot. Er stieß den Kopf nach vorn und umklammerte den Steuerknüppel.

«Verfluchter Mist!«brüllte er und drückte die Maschine gleichzeitig in einer engen Schleife nach unten. Hinter ihm, im Laderaum, purzelten die gehfähigen Verwundeten über die Bahren, das Mundharmonikaspiel erstarb in einem schrillen Mißklang, Schreie flatterten auf, Fluchen, Rufe. Der Bordschütze war von seinem MG geschleudert worden und rappelte sich mit einer Beule an der Stirn mühsam wieder auf.

«Wohl besoffen, Heinrich!«schrie er dem Piloten zu.»Was ist denn los?«

«Der Motor…«

Mit schreckgeweiteten Augen starrte der Bordschütze durch die Kanzelscheibe. Feine Feuerschlangen umzüngelten den Motorblock. Der Transportoffizier, ein junger Leutnant, kam nach vorn, auch er war durch den plötzlichen Sturzflug verletzt und blutete aus einer Rißwunde an der linken Backe.

«Was ist denn hier los?«bellte er. Statt einer Antwort drückte der Pilot die schwere Maschine noch tiefer. Unter ihnen war noch Steppe, verschneit und vereist, eine riesige weiße Tischplatte der Natur. Aber am Horizont hoben sich Wälder ab, ein dunkler Wall, den man nicht mehr überspringen konnte.

«Wir brennen!«schrie der Pilot.

«Was tun wir?«Der junge Leutnant lehnte sich gegen die Kanzel.»Mann — das darf doch nicht wahr sein!«Er starrte hinaus auf die Rauchwölkchen und die Flammen und begriff, daß er in einem Sarg flog. Sein Gesicht fiel ein.»Sind… sind wir schon über deutschbesetztem Gebiet?«fragte er heiser.

Der Pilot hob die Schultern.»Nach meiner Erfahrung nicht. Das ändert sich ja jeden Tag.«

«Und was wollen Sie jetzt tun?«

«Notlanden! Hier irgendwo…«

«Aber die Verwundeten, Mann! Wir krepieren doch alle…«

«Das tun wir so oder so, Herr Leutnant. «Der Pilot starrte auf die vereiste Steppe, die ihm entgegenraste. Er versuchte, die Maschine wieder abzufangen und im Landeflug aufzusetzen. In diesem Augenblick setzte mit einem dumpfen Knall der Motor aus… der Propeller wirbelte zwar noch herum, aber es war nur noch der Luftzug, der ihn bewegte.

«Beten Sie, Herr Leutnant!«schrie der Pilot. Er drückte den Kopf zwischen die Schultern, versuchte noch einmal, die Maschine im Gleitflug aufzusetzen, und sah dabei, daß der ganze Motorblock in hellen Flammen stand. Sie alle sahen es… die beiden Bordschützen, der Leutnant und ein Feldwebel, der vom Laderaum nach vorn gekrochen war, um dem >Schlipssoldaten< am Steuer in den Hintern zu treten. Hinter ihnen rutschten die Bahren übereinander, brüllten die Verwundeten und versuchten zwei Gehfähige, die Tür aufzureißen.

Sekunden nur waren es… unter ihnen das Ende der Steppe, vor ihnen die Wand des stummen Waldes… mit letzter Verzweiflung riß der Pilot das Seitenruder herum, die Maschine legte sich zur Seite, rauschte vom Wald weg und krachte dann mit dem linken Flügel in den Schnee. Ein helles Zischen zerriß die Luft, und eine Dampfwolke hüllte alles ein, als der brennende Motor in den Schnee tauchte… Wie ein Kopfstehender, den plötzlich die Kraft verläßt, knickte das Flugzeug ein, überschlug sich und blieb auf dem Rücken liegen. In seinem Inneren kreischten die Menschen, hieb man gegen die blechernen Wände, rammte die Holme der Bahren, von denen die Schwerverletzten gekippt waren, gegen die Tür.

Auch Sigbart Wallritz war unter denen, die die ’Tür aufbrechen wollten. Als die Maschine stürzte, hatte er sich die Verbände und die Schiene vom Ann gerissen. Niemand beachtete ihn in dem wilden Durcheinander. Die Bahre neben ihm war leer, der Verwundete, der auf ihr gelegen hatte, war in eine Ecke gerollt. Seine Fußspitzen schlugen gegen die Wand, während er grell schrie. Mit ein paar Tritten hatte Wallritz das Segeltuch abgerissen; als die Maschine aufprallte und sich überschlug, klammerte sich Wallritz an zwei Haltegriffen fest und überlebte den Salto wie an Ringen pendelnd. Dann kroch er zur Tür, zielte auf die verklemmte Verriegelung und rammte die Tragenholme gegen das Blech. Ein paarmal prallte er ab, beim fünften Anlauf brach die Tür auf und schlug nach außen um. Heulend fegte die Kälte in den Laderaum, mit ihr aber auch der Geruch von Brand, Öl und glühendem Metall.

«Sie ist auf!«brüllte jemand, und der Schrei pflanzte sich fort.