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«Auf — auf — auf — Jungs, nur ’raus — ’raus —!«

Eine graue, schreiende Woge wälzte sich auf die kleine Luke zu. Wallritz sprang. Er flog ein paar Meter durch eisige Luft, schlug dann in den Schnee, überkugelte sich mehrmals und blieb dann auf dem Bauch liegen. Er sah, wie aus dem Türloch sich stoßende, um sich schlagende Leiber quollen… sie stürzten die vier Meter Höhenunterschied zwischen Tür und Boden kopfüber hinab, und die wenigen, die diese Gefahr erkannten, wurden einfach hinausgestoßen. Der junge Leutnant erschien in der Tür, man hörte ihn brüllen, aber keiner verstand ihn. Auch er wurde von einigen Fäusten einfach aus dem Flugzeug gestoßen und fiel in den Schnee, wo er starr liegenblieb. Er schien sich das Genick gebrochen zu haben.

Sigbart Wallritz sprang auf. Noch einmal sah er zurück zu dem brennenden Flugzeug und dem dunklen Knäuel wimmernder, schreiender, um sich schlagender Menschen, dann rannte er fort, dem nahen Waldrand entgegen.

«He!«schrie ihm eine grelle Stimme nach.»Kamerad! Nimm mich mit… nimm mich mit… Ich kann doch noch laufen… ich kann doch laufen…«

Wallritz rannte, nach vorn geduckt, gegen den Wind gestemmt. Er erreichte den Wald, lehnte sich ächzend gegen den ersten Baumstamm und drückte den Mund an die vereiste Rinde. In diesem Augenblick explodierte der Benzintank des Flugzeuges. Der Druck der Detonation warf Wallritz um den Stamm herum in den Schnee, es war ihm, als platze sein Schädel auseinander. Wie ein Tier wühlte er sich in den Schnee, schloß die Augen und blieb bewegungslos liegen. Erst nach einigen Minuten, in denen keine weitere Explosion mehr erfolgte, richtete er sich auf den Knien auf und starrte hinüber zu dem Flugzeug. Es war zerrissen. Die brennenden Trümmer lagen verstreut im Schnee, und durch das Zischen hörte er die grellen Schreie der Schwerverwundeten, die auf ihren Bahren lagen und verbrannten, übergossen von Benzin und Öl, bedeckt von glühenden Blechfetzen.

Ich lebe, dachte Wallritz. Ich lebe wirklich! Das war so unbegreiflich, daß er zunächst aufstand, sich an einen Baum lehnte und schweratmend in den grauen Himmel starrte. Dann lief er fort, hinein in den verfilzten Wald, richtungslos, ohne Orientierung. Nur weg, dachte er, nur weiter… weiter… Wo er sich befand, war ihm gleichgültig. Er wußte nur eins, und das gab ihm Kraft: Er war aus dem Kessel heraus. Er hatte Stalingrad überlebt. Er war frei… frei! Was jetzt noch kommen konnte, war erträglich gegen die Hölle, der er entronnen war.

Ich werde leben, sagte er sich immer wieder, während er lief. Ich lebe… ich lebe… Er verlor den Zeitbegriff, ruhte ein paarmal aus und sah am Himmel, daß der Abend kam. Da blieb, er stehen und knöpfte den Brotbeutel ab. Er enthielt alles zum Überleben. Eine Feldflasche mit heißem Tee, ein Säckchen Hartkeks, zwei Dosen Schmalzfleisch, ein Feuerzeug, fünfzig Schuß Pistolenmunition. Was will man mehr?

Als die Nacht hereinbrach, saß er in einer Mulde und bemühte sich, nasse Äste zum Brennen zu bringen. Als es nicht gelang, nahm er den letzten Brief seiner Mutter aus der Rocktasche, steckte ihn an und bekam so den Anfang eines kleinen Feuers, das er sorgsam hütete und größer und größer werden ließ bis zur wärmenden Flamme. Er hockte sich davor, lehnte den Kopf gegen einen Baum und wußte nicht, daß er vor Erschöpfung einschlief. Einmal war es ihm, als höre er Stimmen, als falle etwas auf seinen Kopf, er versuchte sich aufzurichten, die Augen aufzureißen, aber sein Kopf war wie mit Blei gefüllt, er fiel nach vorn auf die Brust, und die Besinnungslosigkeit des Schlafes kam wieder über ihn.

Er erwachte, weil ihn jemand rüttelte. Mit einem Sprung wollte er aufschnellen, aber ein Fußtritt warf ihn zurück. Er sah, daß er auf einer alten Zeltplane lag, aber es war keine deutsche, gefleckte Plane, sondern erdbraunes Segeltuch. Das nackte Entsetzen riß seinen Kopf herum.

Um ihn herum saßen oder standen fast zwanzig dunkle Gestalten. Wilde, unrasierte Gesichter unter tief heruntergezogenen Fellmützen, wie sie die Jäger in der Taiga tragen. Mäntel aus Pelz. Filzstiefel. Vor der Brust Maschinenpistolen.

Wallritz stützte sich auf den Ellenbogen hoch. Zum erstenmal sah er Partisanen. Angst durchjagte ihn. Er kannte die Gnadenlosigkeit des Partisanenkampfes aus vielen Erzählungen der Kameraden, und er erkannte in den Blicken der ihn Umstehenden sein Schicksal. Flehend hob er die Hände, und plötzlich begann er zu weinen, schluchzend wie ein Kind. Er ließ sich zurückfallen auf die erdbraune Zeltplane und schlug die Hände vor das Gesicht. Ein Fußtritt in die Seite rollte ihn von der Plane in den Schnee; er kniete, neigte den Kopf nach vorn, biß sich in den Handrücken und schrie dann mit überschlagender Stimme:»Schießt doch! Schießt…!«

«Aufstehen!«sagte eine dunkle Stimme in gutem Deutsch.»Steh auf…«

Sigbart Wallritz erhob sich langsam. Er öffnete die Augen wieder und sah sich um. Der Mann, der zu ihm gesprochen hatte, stand neben ihm. Ein vom Bart verfilztes Gesicht, in dem zwei dunkle Augen brannten.

«Sie… Sie sprechen deutsch«, sagte Wallritz. Es war mehr ein Stöhnen als ein gesprochener Satz.

«Du von der Maschine…«Der Partisan zeigte in eine Himmelsrichtung. Wallritz nickte.

«Aus Stalingrad?«

«Ja.«

«Kameraden alle tot. «Der Kopf Wallritz’ fiel nach vorn.»Du allein leben… Nicht verwundet?«

«Nein. Ich… ich…«Der Kopf Wallritz' schnellte in wilder Verzweiflung herum.»Ich bin ein Deserteur!«schrie er.»Ich will nicht mehr! Ich will nicht! Ich hasse den Krieg! Ich will leben! Leben! Ich bin kein Held — ich will nichts als diesen Wahnsinn hier überleben! Versteht ihr mich: Ich hasse den Krieg! Ich hasse ihn!«

Dann fiel er zusammen. Er hatte seine letzte Kraft in diesem Schrei verbraucht. Eine große Gleichgültigkeit überkam ihn. Er wartete darauf, erschossen zu werden, und es war ihm plötzlich alles so gleichgültig. Er streckte sich im Schnee aus, breitete die Arme von sich und bot sich dar wie ein Schlachtopfer.

«Komm mit!«sagte die dunkle Stimme über ihm.»Steh auf und komm mit. Nikolai Feodorowitsch soll entscheiden. Steh endlich auf…«

Und wieder taumelte Wallritz durch den Wald. Er wurde sogar gestützt, als ihn die Kräfte verließen. Und er begriff das Wunder nicht, daß er noch lebte.

Gefreiter Hans Schmidtke, genannt Knösel, war von Gumrak nach Stalingrad-Stadt geschickt worden. Mit drei Sankas fuhr er los, um aus den vorgeschobenen Verbandplätzen, wie man die überfüllten Sanitätskeller nannte, die Schwerverwundeten abzuholen und in das Feldlazarett Gumrak zu transportieren. Ein Feldwebel leitete den Transport. Knösel fuhr den Sanka Nr. 3.

Westlich des >Tennisschlägers<, jener hart umkämpften Eisenbahnschleife mitten in Stalingrad, die noch immer im Besitz der Sowjets war und die Major Jewgenij Alexandrowitsch Kubowsld so heldenhaft verteidigte, erzählte man ihm von dem russischen Stoßtruppunternehmen, das einer ganzen Batterie das Leben gekostet habe. Nur vier Verwundete lagen noch in einem Keller der Fabrik und warteten auf den Abtransport. Man hatte sie nicht zur Sammelstelle bringen können, weil die Straßen ständig unter Artillerie- und Granatwerferfeuer lagen. Drei Sanitäter waren in dieser Feuerglocke schon zerfetzt worden.

Der Feldwebel aus Gumrak kratzte sich den Kopf und hob die Schultern.»Das sind vier Mann, Jungs… und vierhundert warten hier! Da kann man nichts machen. Vielleicht beim nächstenmal… wenn wir dann noch durchkommen! Die Scheiße dampft nämlich gewaltig!«

Außer den vier Verwundeten im Fabrikkeller aber hatte Knösel noch eine andere Nachricht erhalten, die ihm weit wichtiger erschien. Die Artillerie-Batterie, die der sowjetische Stoßtrupp vernichtet hatte, war eine bespannte Batterie gewesen. Bespannt heißt aber, daß da, wo die Protzen standen, auch Pferde sein mußten. Pferde wiederum waren Fleisch, und Fleisch war etwas, was man in Gumrak nur einmal in der Woche kannte und dann nur als Bröckchen in einer wasserhellen Suppe.