Unter seinem Schutz kroch Knösel zurück zu den deutschen Kellerstellungen. Nur einmal wurde er beschossen, aber die zwei Treffer schlugen in das Pferdefleisch ein und blieben dort stecken. Fast hundert Meter aber mußte er schutzlos rennen und robben, dann erreichte er einen Laufgraben und fiel neben einem MGStand kopfüber in die deutsche Stellung.
Die drei MG-Wachen halfen Knösel auf die Beine und taten dann etwas, was Knösel das Gefühl gab, zu Hause zu sein. Sie schrien ihn an:»Du Vollidiot! Du Dünnscheißer!«, traten ihn mehrmals in den Hintern und schlugen ihm auf den Stahlhelm.»Latscht der Kerl da quickvergnügt durch die Schußlinie!«brüllte ein Feldwebel.»Im letzten Moment sehen wir, daß das ein deutscher Idiot ist! Sie melden sich sofort beim Kompaniechef. Dort hinten, wo das Brett hängt! Los, Mann… Sie faule Pflaume!«
Knösel schwieg. Er rannte durch den Laufgraben davon, vorbei am Kompaniebunker, durch Quergräben und verlassene Kriechmulden, um Häuser herum und über Straßen, bis er aufrecht gehen konnte und die ersten qualmenden Schornsteine der Trosse, Werkstätten, Feldküchen und Stäbe sah. Er näherte sich dem Rand der Stadt, dem Gewirr der zerschossenen Straßenbahnen, Lastwagen und Panzerruinen, zwischen denen die technischen Truppen sich eingerichtet hatten, unter ihnen auch die Bäckerkompanie, die seit zwei Tagen begonnen hatte, Brot unter zwanzigprozentiger Beimischung von Sägemehl zu backen.
Während Knösel zwei Pfund Fleisch gegen drei noch heiße Brote tauschte, schrieb in seinem Lazarettzelt in Gumrak Stabsarzt Dr. Portner seine Tagesmeldung.
>Einlieferungen: 472 Mann.
Todesfälle: 294 Mann.
Ausgeflogen: 47 Mann.
Aus der Lazarettbelegschaft: 1 Mann bei Verwundetentransport aus Stalingrad nach Gumrak vermißt. Name: Hans Schmidtke, Gefreiter, geb. 14. 9. 1917. Stammrollen-Nummer…<
«Ich habe das Gefühl, er lebt, Herr Stabsarzt«, sagte Dr. Körner, als er die Meldung Portners durchlas. Der Stabsarzt schüttelte den Kopf.
«Glauben Sie, Knösel geht aus Vergnügen in den Trümmern spazieren oder sucht seinen dämlichen Elefanten? Ich habe Feldwebel Baltus eingehend verhört: Knösel hat sich heimlich entfernt und ist seitdem verschollen! Wenn es nicht Knösel wäre, würde ich sogar schreiben: Verdacht des Oberlaufens zum Gegner…«
«Ich habe ein merkwürdiges Gefühl, Herr Stabsarzt.«
Dr. Portner sah seinen Assistenzarzt groß an.»Hunger haben Sie, Körner. Und vielleicht im Inneren so etwas wie das Gefühl der Ausweglosigkeit. Im Volksmund nennt man es >Das arme Tier<. Das haben wir alle, Körner!«Er faltete die Meldung zusammen und reichte sie Dr. Körner über den Tisch.»Lassen Sie das nachher mit dem nächsten Schub der Ausflieg-Verwunde-ten zum Divisionsarzt bringen.«
Dr. Körner nickte. Er verließ das OP-Zelt und stapfte durch den Schnee zu seinem Verbandzelt. Dort arbeiteten Horst Wallritz und sechs Sanitäter und wechselten die Verbände der Gehfähigen. In langer Schlange standen sie vor dem Zelt in der eisigen Luft. Ein Feldwebel der Feldgendarmerie >regelte den Verkehr<. Er hieß Emil Rottmann und hatte sich bei Dr. Portner gemeldet mit dem
Hinweis, daß er abgestellt sei, für die äußere Ordnung des Feldlazaretts III zu sorgen.
Niemand fragte ihn, woher der Befehl dazu gekommen sei. Es wurden in diesen Tagen so viele sinnlose Befehle gegeben und auch ausgeführt, daß es auf einen unsinnigen mehr oder weniger nicht ankam. Dr. Portner hatte nur genickt und geantwortet:»Na denn… richten Sie von mir aus Einbahnstraßen zwischen den Zelten ein. Nur wenn Sie uns behindern, gibt's Krach!«
Emil Rottmann hielt sich streng daran. Er hatte gar nicht die Absicht, zu behindern. Er wollte nur in der Nähe von Wallritz und Dr. Körner sein, in der Nähe des >Lebensbilletts<, das er von ihnen erwartete, wenn es an der Zeit war.
In der Nacht zum 18. Dezember 1942 erhielt das Feldlazarett III den Befehl, die Zelte in Gumrak abzubauen und wieder in die Stadt zurückzukehren. Von allen Seiten wurde der Kessel um Stalingrad — 63 km lang und 38 km breit — eingedrückt. Sowjetische Panzer tauchten plötzlich in Dörfern mitten im Kessel auf, walzten alles nieder und verschwanden wie Schemen im Schneenebel. Eine feste Verteidigungslinie war unmöglich geworden. Durch die breiten Lücken zwischen den einzelnen Divisionen und Regimentern sickerten russische Truppen ein und vernichteten im Kleinkampf die ausgemergelten, übermüdeten, erschöpften, hungernden und frierenden Kompanien.
Alle Ausbruchsversuche waren vom Führerhauptquartier verboten worden. Sie wären jetzt auch sinnlos gewesen, denn die nächsten deutschen Divisionen außerhalb des Kessels standen erst am Tschir, bei Werchne-Tschirskaja oder tief im Süden bei Pot-jomkinskaja. Um sie zu erreichen und die Front der Umklammerung zu durchstoßen, fehlte es an Benzin, Munition, Verpflegung, Kraft, Mut, Fahrzeugen, eben an allem. Es gab nur noch eins: Warten auf ein Wunder. Warten auf den Tod. Warten auf etwas, was man nicht aussprechen kann, weil es Gott beleidigen würde.
Generalarzt Professor Dr. Abendroth hatte die Chefs der Feldlazarette nach Pitomnik bestellt. Hier war die Lage ebenfalls verzweifelt, weil hier fast dreißigtausend Verwundete lagen, die auf einen Ausflug hofften, verpflegt werden mußten und von denen jeder wußte, daß sie einmal elend in Schnee und Eis krepieren würden, wenn das erhoffte Wunder nicht eintrat und sie nicht von deutschen Flugzeugen abgeholt würden.
«Lieber Portner«, sagte Professor Dr. Abendroth zu seinem ehemaligen Schüler,»sehen Sie mich nicht so strafend an. Ich habe den Krieg nicht gewollt, und geführt habe ich ihn noch viel weniger! Wenn Sie wüßten, wieviel Notschreie ich täglich zur Heeresgruppe funke, Schreie um Flugzeuge, um Medikamente, Verbandmaterial, Instrumente, Verpflegung… und wie schrecklich das Echo ist… >Wir tun, was wir können… wir tun, was wir können…<, und es kommt nichts! Gar nichts! Ein paar Kisten vielleicht… ein Viertelmeter Binden für jeden Verwundeten, wenn wir es aufteilen!«
Er beugte sich über einen Stadtplan und legte den Finger auf eine Stelle, an der im Straßengewirr ein kleines rotes Kreuz gezeichnet war.
«Hier, Portner. Hier war einmal ein Lazarettkeller. Unter einem Kino.«
«Ich kenne die Gegend, Herr Generalarzt. «Dr. Portner beugte sich auch über die Karte.»Sechshundert Meter weiter südlich hatte ich meine Sammelstelle.«
«Dort sollen Sie wieder hin, Portner.«
«Wann?«
«Sofort. Man gruppiert um. Statt nach Westen geht es wieder nach Osten. Hinein in die Stadt. Man rechnet mit einem großen Druck aus dem Donbogen und von Beketowka im Süden her. In dieser Zange will man uns zerquetschen. Deshalb soll in der Stadt selbst für alle Fälle eine Verteidigungsfront aufgebaut werden, ein Bunkersystem. Jeder Keller ein Heldennest, Portner! Man ist dabei, der 6. Armee die Gräber zuzuweisen.«
Stabsarzt Dr. Portner schwieg. Was gab es auch noch zu sagen? Professor Abendroth kannte wie er die Tausende von Verwundeten, die unzureichend versorgt in Erdlöchern und Kellern, Zelten und Baracken herumlagen und — erst schreiend und sich auflehnend gegen das Schicksal, später apathisch und von einem schrecklichen Gleichmut — dem langsamen Krepieren entgegensahen.
«Noch etwas, Portner«, sagte Generalarzt Professor Abendroth.»Seit gestern berennt der Russe die Front der 8. italienischen Armee am Don. Zwei deutsche Armeegruppen — die Gruppe Hollidt am Tschir und die Gruppe Hoth im Süden — sind seit zwei Tagen im Angriff, um unseren Kessel zu erreichen. Ihre aufgerissene Flanke im Norden, dort, wo die Sowjets bei den Italienern durchbrechen, wird sie zwingen, die Angriffsspitzen wieder zurückzunehmen. Sie wissen, was das heißt.«
«Ja. «Dr. Portner hob den Blick von der Karte.»Es wird in absehbarer Zeit keine 6. Armee mehr geben.«
«Damit scheint man bei der Armeeführung zu rechnen. «Professor Abendroth straffte sich etwas.»Wie allen Offizieren der 6. Armee habe ich auch Ihnen einen Befehl durchzugeben: Kein Offizier der 6. Armee geht lebend in sowjetische Gefangenschaft. Er hat sich vorher zu erschießen! Auch für den einfachen Mann ist eine Gefangennahme unehrenhaft!«