«Jawohl, Herr Generalarzt. «Dr. Portner stand in strammer Haltung vor seinem alten Professor.»Aber ich bin Arzt!«
«Und Offizier!«
«Wer zeichnet für diesen Befehl verantwortlich?«
«Die Armeeführung.«
«Und Sie; Herr Generalarzt? Das ist eine private Frage.«
«Ich werde morgen ausgeflogen zur Heeresgruppe. Ich will an Ort und Stelle alles versuchen, damit die Truppe im Kessel das Nötigste bekommt. «Professor Abendroth verlor einen Augenblick die Haltung. Er legte den Arm um die Schulter seines Schülers, wie ein Vater um seinen Sohn.»Machen Sie's gut, Portner. Das ist alles, was ich Ihnen mitgeben kann. Sie werden sich erschießen?«
«Nein, Herr Generalarzt. Meine gefangenen Kameraden werden mich brauchen. Ich halte nichts von dieser Heldentodgeste. Ich betrachte sie als feiges Davonstehlen aus der Verantwortung.«
Professor Abendroth nahm den Arm von Portners Schulter.
«Gott sei mit Ihnen, mein Junge«, sagte er leise. Er konnte nicht weitersprechen. Es klopfte. Eine Ordonnanz brachte die neuesten Funkmeldungen. Abendroth überflog sie und gab sie an den Stabsarzt weiter.»Da, lesen Sie. Einbruch bei der 8. italienischen Armee auf breiter Front. Und ein Funkspruch des Reichsmarschalls Göring an General Paulus: >Ich habe den Befehl gegeben, alle entbehrlichen Maschinen zur Versorgung Stalingrads einzusetzen. Dazu gehört auch die OKH-Transport-Staffel. In zunehmend stärkerem Maße werden laufend Maschinen von der Afrikafront abgezogen und für die Versorgung des Kessels eingesetzt. Halten Sie durch…<«Professor Abendroth ließ die Meldung sinken.
«Dann kann man also doch Hoffnung haben?«fragte Dr. Port-ner. Ein Schimmer von Freude kam in seine Augen. Professor Abendroth war geneigt, seinem Schüler wie einem gutgläubigen Kind über die Wangen zu streicheln. Er nahm ein anderes Meldeblatt und las kommentarlos weiter:
Funkspruch der 6. Armee an die Luftflotte Tschir: Trotz herrlichstem Wetter und strahlendem Sonnenschein erfolgte am 17. Dezember nicht die Landung eines einzigen Flugzeuges. Die Armee ersucht um Aufklärung, warum nicht geflogen wird. Schmidt.
Dr. Portner starrte seinen Professor an.»Der siebzehnte Dezember ist heute…«
«Ja. Sehen Sie aus dem Fenster, Portner. Sehen Sie eine Maschine landen oder abfliegen? Aber wir brauchen täglich dreihundert Tonnen Material, um überhaupt leben zu können!«Professor Abendroth warf die Meldungen auf den Kartentisch. Es war eine Geste völliger Verzweiflung und aufschreiender Ohnmacht.»Vielleicht sehen wir uns einmal wieder, Portner«, sagte er leise.
«Vielleicht, Herr Professor…«
Noch einmal drückten sie sich die Hand. Dann verließ Stabsarzt Dr. Portner das Zimmer. Im Vorraum warteten 42 andere Militärärzte. Zu ihnen wollte Abendroth gemeinsam sprechen. Ein älterer Oberstabsarzt kam auf Portner zu, kaum daß er die Tür hinter sich zugezogen hatte.
«Dicke Luft, was?«fragte der Oberstabsarzt.
«Ja. Wir werden zurück in die Stadt verlegt.«
«Wenn’s weiter nichts ist!«Der Oberstabsarzt winkte ab.»Immer noch besser in einem ausgebauten Keller, als hier in der Steppe herumzuliegen und die Zelte im Sturm festzuhalten! Ich habe mehr Verluste an Erschöpfung, Kälte und Panik als an tödlichen Verwundungen…«
Generalarzt Professor Abendroth hatte gewartet, bis Portner das Zimmer verlassen hatte. Erst dann nahm er das dritte Blatt vom Tisch und las die Meldung durch. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, Portner auch diesen Funkspruch vorzulesen.
Funkspruch 6. Armee an Heeresgruppe Don: Die Armee meldet, daß die Lage im Westen des Kessels besonders kritisch ist. Mangels Holz besteht keine Möglichkeit zum Ausbau von Stellungen und mangels Kraftstoff keine Möglichkeit, nach dorthin Baumaterial aus Stalingrad zu transportieren. Die Truppe liegt bei _fünfunddreißig Grad Kälte auf _freiem, völlig ungedecktem Schneefeld.
Zum erstenmal geschah es in diesen Tagen, daß man hölzerne Eisenbahnschwellen herausriß, sie raspelte und davon eine Suppe kochte und daß in einem Keller der Stadt ein großer eiserner Kessel zischte, in dessen Wasser zwei Pferdehufe ausgekocht wurden. Sie ergaben eine trübe, aber etwas fettige Brühe und wurden zu einem Festessen.
In der Nacht zum 19. Dezember fuhr das Feldlazarett III mit vier Sankas, zwei Motorrädern, einem Kübelwagen und zwei Lastwagen aus Gumrak hinaus in die Steppe, Richtung StalingradStadt. Zurück blieben die Zelte und die Verwundeten, die von einer anderen Lazaretteinheit übernommen wurden. Die kleine Karawane folgte der Bahnlinie bis zum Tatarenwall und zog dann durch die Steppe nach Süden, der Zariza entgegen. Auf einem Krad fuhr der Feldgendarmerie-Feldwebel Emil Rottmann dem Lazarett voraus, erkundete den Weg und sorgte dafür, daß keine Stockungen auftraten durch zurückfahrende Transporter oder Truppenkolonnen. Er machte sich nützlich, und keiner fragte, wer ihm dazu den Befehl gegeben hatte. Er war >zugeteilt< und wurde als solcher auch im Verpflegungsbuch geführt.
Am Tatarenwall fand ein unverhofftes Wiedersehen statt.
Bei der Durchfahrt durch ein neuentstandenes Dorf aus Erdbunkern, Zelten und Hütten, das eine Werkstattkompanie errichtet hatte, sprang plötzlich ein Mann auf die Straße und breitete die Arme weit aus.
«Jungs!«brüllte der Mann.»Ihr kommt mir entgegen? Das finde ich nett…«
Dr. Körner sah seinen Stabsarzt lachend an. Sie saßen in dem Kübelwagen, der plötzlich bremsen mußte, weil der Mann auf die Straße gesprungen war.
«Unser Knösel«, sagte er. Dr. Portner sprang aus dem Wagen.»Den mache ich zur Minna!«schrie er.»Den mache ich…«
Aber dann schwieg er, denn Knösel hielt ihm den Sack entgegen und sagte mit naivem Grinsen:
«Dreißig Pfund Fleisch, Herr Stabsarzt. So was kann man doch nicht liegenlassen…«
Beim Morgengrauen erreichten sie die Vorstädte Stalingrads und die zugewiesenen Plätze, an denen die Sankas und Lastwagen zurückblieben. Mit dem Kübelwagen und den Motorrädern fuhren sie in die Trümmerwüste hinein… zwei Ärzte, zwei Sanitätsfeldwebel, vier Sanitäter, Knösel und Emil Rottmann. Ohne Beschuß erreichten sie den ehemals runden Platz, an dem das große Kino gestanden hatte. Sie wurden schon erwartet. Das Kellergewirr unter dem Kino war bereits belegt. Neunundsechzig Verwundete waren hier zusammengetragen worden, ein junger Unterarzt versorgte sie, so gut es ihm seine Mittel erlaubten. Und er hatte nichts als ein paar Binden und Holzstangen als Notschienen. Und eine Kiste. Flugzeuge hatten sie abgeworfen. Lazarettmaterial, stand auf dem Deckel. Und ein großes Rotes Kreuz. Als er die Küste aufstemmte, fielen ihm Bücher entgegen. 1200 Hefte mit Weihnachtsliedern…
In den Wäldern südlich von Bolschoi Ternowskij hauste die Partisanengruppe des Majors Nikolai Feodorowitsch Babkow. Mitten in der verfilzten Wildnis hatte sich eine kleine Stadt aus Erdbunkern und Holzhütten gebildet. Über 2000 Partisanen lebten hier, zum Teil mit ihren Familien, mit Frauen, Kindern und Greisen. Vier Postenketten sicherten das Erdhöhlendorf vor Überraschungen… von der Luft aus war es überhaupt nicht zu sehen. Gekocht wurde nur des Nachts, wenn man den Rauch nicht sah. Ihre Befehle erhielt die Gruppe direkt vom Kommandeur der sowjetischen Donfront, dem Generalleutnant Rokossowski und dem Befehlshaber der sowjetischen 5. Panzerarmee, Generalleutnant Romanenko. Ihre Aufgabe war es, den Nachschub für das 48. deutsche Panzerkorps zu stören, jenes durch Hunger, Kälte und Spritmangel zusammengeschrumpfte Korps, das als Feuerwehr an der Front diente und hin und her geworfen wurde, wo der Russe durchbrach, bis es selbst, von sich widersprechenden Befehlen herumgejagt, fast aufgerieben wurde.
Major Babkow saß an einem Klapptisch, trank heißen Tee und aß warmen Kuchen, als der Gefangene Sigbart Wallritz hereingeführt wurde. Man hatte ihm die Augen verbunden, damit er den Weg zu der Geisterstadt unter der Erde nicht sah.