Ein Weg in das Namenlose, denn niemand wird von dieser Kolonne etwas sehen noch wiederfinden. Es wird eine Truppe sein, die einfach verschwand. Aufgesaugt vom unersättlichen Schwamm des Krieges.
Von weitem hörte er jetzt das Knattern von Motoren. Sigbart Wallritz sah sich um. Er schien allein, aber er wußte, daß 2000 Russen hinter ihm lagen, zehn Meter von ihm entfernt die erste Truppe, mit Major Babkow an der Spitze, zweihundert Scharfschützen, die den Riegel vor die Falle legen sollten.
Zwei Kradmelder und ein Kübelwagen krochen durch die Nacht heran. Wallritz trat in die Mitte der Gabelung und hob seine rote Kelle.»Halt! Feldgendarmerie. «Sein Arm zitterte dabei.»Zurück!«wollte er schreien.»Jungs, kehrt um! Zurück!«Aber er schwieg. Er hielt die Kelle hoch und wurde vom Schnee überschüttet, den die bremsenden Räder vor ihm aufwühlten.
«Was ist?«brüllte eine helle Stimme.»Was stehen Sie Flöte hier im Weg?«Aus dem Kübelwagen sprang ein Offizier. Es war ein Oberstleutnant. Der Schein einer Taschenlampe zuckte schnell über Wallritz, das blanke Schild vor der Brust gleißte auf.
«Natürlich!«schrie der Oberstleutnant.»Überall sind die Kettenhunde! Was gibt es denn?«
«Die Straße ist gesperrt. «Wallritz hatte Mühe, es zu sagen. Er sprach so leise, daß ihn der Offizier nicht verstand.
«Was ist los? Mann, reden Sie lauter! Ich will mir hier nicht den Arsch abfrieren!«
«Die… die Straße ist gesperrt«, sagte Wallritz lauter.»Partisanen! Sie haben eine Brücke gesprengt. Ich habe den Befehl, Sie über den Seitenweg umzuleiten…«
Hinter dem Offizier stauten sich die Wagen. Motorengeheul erfüllte die Nacht. Der Oberstleutnant sah die Straße hinunter.
«Es ist zum Kotzen!«schrie er.»Wie lang ist der Umweg?«
«Ungefähr zwei Stunden…«
«Na, das geht ja noch!«Er sah zurück und winkte. Die beiden Kradmelder schwenkten in den Waldweg ein; die ersten Verlorenen, dachte Wallritz und schloß einen Moment die Augen. Als er sie wieder aufriß, war der Offizier schon bei seinem Kübelwagen. Wallritz trat zurück… an ihm vorbei fuhren die Wagen,
fraugrüne ratternde Lastwagen aller Modelle, voll beladen mit le-enswichtigen Nachschub des 48. Panzerkorps.
Er zählte, was an ihm vorbeifuhr. Siebenundvierzig Wagen, zwanzig Kräder und als Nachhut zwei Schützenpanzer. Langsam ratterten sie in den Waldweg, vorsichtig, als ahnten sie etwas. Als der letzte Schützenpanzer von der Gabelung abfuhr, schnappte die Falle zu. Von den Seiten rannten ein paar dunkle Gestalten auf den Weg, in den Händen kreisrunde Gebilde. Sie legten sie in den Schnee, in die Reifenspuren, in die Kettenabdrücke. Vier Reihen hintereinander. Ein unüberwindlicher Todesgürtel aus Tellerminen.
Aus dem Wald heraus fauchte eine einzelne Leuchtkugel, zog eine Parabelbahn und verlöschte wieder. Im gleichen Augenblick schrie der Wald auf. Aus Hunderten von Maschinengewehren und Granatwerfern jagte der Tod in die völlig verwirrte Kolonne. Es gab kein Ausbrechen mehr, kein Zurück, kein Vorwärts. Vier Munitionswagen explodierten, in einem grausamen Feuerwerk jagte die Leuchtspurmunition in den Himmel.
Sigbart Wallritz stand noch immer auf der Kreuzung, starr, mit weitaufgerissenen Augen. Er sah, wie eine Gruppe deutscher Soldaten auf die Gabelung zuhetzte, in wilder Angst um das nackte Leben rennend. Sie sprangen hinein in den ersten Minengürtel und wurden in einer riesigen Explosionswolke zerfetzt. Der Luftdruck warf Wallritz von der Straße an den Waldrand. Er raffte sich auf, kroch auf allen vieren weiter, die Straße entlang, die die Kolonne hergekommen war, die Straße, die in die Freiheit führte. Dann, nach einigen Metern rannte er, den Oberkörper nach vorn, mit schlenkernden Armen, als könne er sich damit durch die eisige Luft schneller vorwärtsrudern. Die Hölle hinter ihm krachte noch immer, er hörte das >Urrräaä< der angreifenden Russen und spürte das Grauen bis in die Knochen.
Und plötzlich blieb er stehen. Er wollte es nicht, aber er konnte die Füße nicht mehr bewegen. Ein Faustschlag hatte seinen Rücken getroffen und lähmte seine Beine. Noch einmal schlug eine Faust zu, zwischen die Schultern. Ein heißer Stich jagte ihm zum Herzen… er fiel auf das Gesicht in den Schnee, krallte die Finger in das Eis der Straße und schrie… schrie… Sein Körper zuckte wie unter elektrischen Schlägen, er biß in das Eis, und bevor das Gehirn versagte, fühlte und sah er noch, wie ein Blutschwall aus seinem Mund stürzte und sein Kopf in einer roten Lache schwamm. Dann starb er, auf der Straße, die zum Leben führte.
Aus dem Wald trat Leutnant Perwuchin und beugte sich über den Toten. Dann steckte er seine Pistole ein und zündete sich eine Zigarette an.
Auf dem Waldweg starben in dieser Stunde dreihundertzweiundneunzig deutsche Soldaten. Niemand kam mehr aus der Falle zurück.
In den Kellern unter dem Kino hatte sich das Feldlazarett III häuslich eingerichtet. Knösel hatte die Lage bereits gepeilt: Sie befanden sich vierhundertzwanzig Meter von seinem >Eisschrank< entfernt. Das hört sich viel an, aber für Knösel bedeutete es in unmittelbarer Nähe von Sattwerden zu leben.
Einige Kommandeure der umliegenden Truppen besuchten Stabsarzt Dr. Portner. Sie brachten Schnaps mit und die Bitte, den Sanitätern der Truppe Verbandmaterial und schmerzstillende Tabletten oder Spritzen zu geben. Dr. Portner mußte sie alle vertrösten.»Wenn in zwei Wochen nicht durch die Luftversorgung Ersatz abgeworfen wird, weiß ich selbst nicht mehr, womit ich die Verwundeten versorgen soll«, sagte er.»Geben Sie das per Funk an die Division durch. «Die Kommandeure verabschiedeten sich höflich und gingen.»Er ist ein genauso armes Schwein wie wir«, sagten sie draußen auf dem kreisrunden Platz, ehe sie sich trennten.»Ich möchte wissen, wie die Armee sich das denkt. So kann es doch nicht weitergehen.«
Aber es ging weiter. Obwohl im Norden die 8. italienische Armee vernichtend geschlagen wurde und panikartig zurückflüchtete und im Süden der Entlastungsversuch der Armeegruppen Hollith und Hoth im Feuer sowjetischer Panzer- und GardeArmeen steckenblieb und zurückgedrängt wurde, obwohl Tag für Tag und Nacht für Nacht ein Vorhang aus brüllender Glut über der Stadt Stalingrad hing und durch die deutsche Luftflotte statt der nötigen fünfhundert Tonnen Versorgung täglich nur hundert Tonnen in den Kessel gelangten und an manchen Tagen überhaupt nichts, brachte der Großdeutsche Rundfunk markige Worte Görings und Goebbels' und wurden vorweihnachtliche Konzerte gesendet, die in den Kellern und Bunkern von Stalingrad, in den Steppendörfern des Kessels und den Sterbehöhlen von Pitomnik und Gumrak mit sprachloser Verwunderung empfangen wurden.
Man rüstete sich für Weihnachten. Für das Fest der Liebe und des Friedens, in einer Welt, die Tag für Tag das sinnlose Sterben Hunderter sah und für die der Begriff des Gottes der Liebe immer unverständlicher wurde.
Die Lebensmittelversorgung der eingeschlossenen Truppen brach in den Tagen vor Weihnachten zusammen. Die Brotration wurde auf hundert Gramm festgesetzt, aber auch dies stand nur auf dem Papier, denn es gab Tausende, die ihren letzten Brotkanten schon vor Tagen gegessen und von da ab von Brot nichts mehr gesehen hatten. Es kam die Zeit, in der man Puddingsuppen aus Fußpuder kochte und einen nach Leim schmeckenden Brei aus Sägespänen, Stroh und Steppengras.
In den Kellern unter dem Kino lagen jetzt weniger Verwundete und mehr Fleckfieberkranke, Verhungerte und Erschöpfte. Es war unmöglich, die wertvollen Plätze in den Kellern von ihnen freizuhalten. Sie kamen in Gruppen, überrannten die Sanitäter, drängten in die Tiefe, wo ihnen Wärme entgegenschlug. Ruhe, das Gefühl von Geborgenheit, Wasser, Essen, und sie warfen sich hin, blieben liegen, versperrten Gänge und Treppen mit ihren Leibern und starben lautlos oder unter wimmerndem Schreien.