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In wenigen Minuten war der Packsack Dr. Körners gepackt. Knösel half ihm dabei. Dann stiegen sie hinauf in das Trümmerfeld und wurden von russischen Pakgeschossen empfangen. Feldwebel Wallritz war mit ihnen nach oben gekommen. Ein Häuserviertel im >Tennisschläger< brannte lichterloh. Pioniere kämmten mit Flammenwerfern einige Straßenzüge durch. In einem mitten durchgerissenen Haus lagen auf dem Betonboden' des zweiten Stockwerkes einige Sowjetsoldaten. Man sah sie ganz deutlich… ihre Uniformen brannten, sie wälzten sich und rollten sich über den Boden, um die Flammen zu ersticken. Aber jedesmal, wenn sie in Richtung der Straße lagen, begannen sie wieder zu schießen. Brennende Menschen, die bis zum letzten Stöhnen kämpften.

«Los!«sagte Knösel. Er duckte sich und rannte den Laufgang hinunter, den man in der Straße gegraben hatte. Dr. Körner folgte ihm. Sie liefen einige hundert Meter, mit keuchenden Lungen, schluckten Staub, warfen sich vor heranorgelnden Granaten hin und suchten in Löchern Schutz, geduckt an die schon verwesenden Leichen, auf die sie hinaufsprangen. Kurz vor einem freien Platz überfiel sie noch einmal eine Salve. Den Kopf zwischen die Steine gedrückt, warteten sie, hörten über sich hinweg die heißen Splitter surren und in die geborstenen Hauswände klatschen. Eine Staublawine, die von einer Fassade über sie herfiel, nahm ihnen die Luft. Sie sprangen auf, warfen die Arme empor und rangen nach Atem. Taumelnd erreichten sie das andere Ende des Platzes, stolperten weiter und standen plötzlich in einer anderen Welt.

Aus Kellern und Steinbunkern rauchten Ofenrohre. Zwei Funkwagen waren hinter einer Hauswand aufgefahren und hatten eine lange Antenne gespannt. In Hausruinen hatten sich Werkstätten niedergelassen. Von irgendwoher zog der Duft einer dampfenden Nudelsuppe durch die Trümmer. Vier deutsche Tigerpanzer waren in einer Reihe aufgefahren und wurden so sorgfältig gewaschen, als gehe es zur Parade. Ein Spieß schrie herum und meckerte, weil die Raupenketten der Panzer in den inneren Gliedern immer noch Lehmspuren aufwiesen.

«Ich werd' verrückt!«sagte Dr. Hans Körner und blieb keuchend stehen.»Da die Hölle — hier Kommiß!«

«Genau bis zu dem Platz reicht die sowjetische Artillerie. Dann kommt 'n freier Streifen… und auf der Straße nach Gumrak geht's wieder los. Da kommen die großen Koffer 'runter. Det is hier wie 'ne Insel. Und da steht er ooch, unser Kübel…«Knösel zeigte mit seiner Pfeife auf einen Kübelwagen mit Tarnanstrich. Er stand vor einer der Werkstätten.

Knösel schleppte den Packsack Körners zum Wagen und warf ihn auf den Hintersitz. Ein Offizier kroch aus einem Keller und sah Körner interessiert entgegen, als dieser an den Wagen trat. Er grüßte, und Körner grüßte zurück.

«Ihr Wagen, Kamerad?«

«Ja.«

«Sie fahren nach hinten? Würden Sie ein Paket mitnehmen?«Der Offizier, ein Oberleutnant mit großen verträumten Augen, kam näher. In der Hand hielt er ein kleines Paket.»Es ist für meine Mutter…«

«Selbstverständlich. «Dr. Körner nahm das Paket und legte es neben seinem Packsack.

«Ich bin gestern hierhergekommen, aus Frankreich«, sagte der junge Oberleutnant. In seiner Stimme schwang eine große Hilflosigkeit.»Es sieht verdammt beschissen aus. Sie kommen vom >Tennisschläger<?«

«Ja.«

«Da muß ich morgen früh hin.«

Körner gab dem jungen Offizier die Hand.»Dann viel Glück, Herr Kamerad. In drei Tagen komme ich zurück… dann sehen wir uns vielleicht wieder.«

«Vielleicht…«

Der Oberleutnant winkte dem Wagen nach, als Knösel mit knatterndem Motor über die Straße hoppelte, über Steine und durch flache Löcher. An einem abgeholzten und zersplitterten Wäldchen vorbei erreichten sie eine breite Landstraße. Links und rechts lagen abgeschossene sowjetische Panzer, zerfetzte Autos und umgestürzte, zu einem Gewirr zusammengeworfene Telegrafenmaste. Die Toten hatte man weggeräumt und neben der Straße, auf den steppenähnlichen Feldern, begraben. Knösel drückte auf das Gas, als sie die breite Straße erreicht hatten.

«Wir müssen einen Umweg machen, Herr Assistenzarzt«, sagte er.»Über Gorodistsche und dann übern Tatarenwall. Der nächste Weg, der über de Steppe, is mir zu unsicher.«

«Sie werden es schon richtig machen. Wir haben ja Zeit. «Dr. Körner lehnte sich zurück und sah in den fahlen, farblosen Himmel. Morgen heirate ich, dachte er. Marianne Bader, neunzehn Jahre alt, schwarzlockig und süß. Er hatte sie im Zug kennengelernt, bei einem Luftangriff auf freier Strecke. Nebeneinander hatten sie in einem Kornfeld gelegen, während oben auf dem Bahndamm die Flugzeuge um die verlassenen Waggons kreisten und in sie hineinschossen. Das Mädchen war voll Angst an ihn gekrochen und hatte sich wie ein schutzsuchendes Tier an ihn geschmiegt.»Sie brauchen keine Angst zu haben!«hatte er damals gesagt, obwohl ihm selbst ein dicker Kloß in der Kehle saß. Aus dieser Angst im Kornfeld war ihre Liebe geworden.

Dr. Körner schloß die Augen. Das Rumpeln und Rütteln des Wagens schläferte ein. Im Lazarettkeller hatte es keinen Schlaf gegeben, nur ein paar Stunden unruhiges Hin- und Herwälzen auf einer Matratze, die man aus den Trümmern geborgen hatte. Wenn dann die Ruhe doch kam, weckte einen das Rütteln von Feldwebel Wallritz. Die Zeit war herum… auf dem Küchentisch lagen wieder neue Leiber, aufgerissen und um Hilfe wimmernd.

Knösel ließ den Assistenzarzt schlafen. Nur einmal hielt er an, schob seinen zusammengerollten Mantel vorsichtig unter den Nacken Körners, deckte ihn mit einer alten Pferdedecke zu und fuhr dann weiter. Er ratterte durch Gorodistsche und über den Tatarenwall, vorbei an den riesigen Materiallagern der 6. Armee, an Autokolonnen und Panzerbataillonen, an Nachschubschlangen und Munitionstransportern.

Hinter Gumrak passierte er ein großes Verpflegungslager. Neun Zahlmeister waren dabei, alle Kisten listenmäßig zu erfassen, die man auslud. Knösel hielt einen Augenblick an, übermannt von Verwunderung. Er sah Büchsen mit Schinken und Schmalzfleisch, Kanister mit Salatöl, Säcke voller Bonbons, Schokolade und sogar Pralinen. Er sah mit sprachlosem Staunen, wie man einen Lastwagen voller Bienenhonigdosen auslud. Ein Stabszahlmeister stand daneben, zählte jede Dose und machte einen Strich in sein Wareneingangsbuch.

Ein Feldgendarm trat an den Kübelwagen heran.»Hau ab, Wanze!«knurrte er.»Was gibt's hier zu sehen?«

«Das Märchen vom Schlaraffenland, Kumpel. «Knösel zeigte mit seiner Pfeife auf das Verpfiegungslager, das überquoll von Lebensmitteln.»Weißt du, was wir draußen zu fressen kriegen?«

«Hau ab, sag ich!«

«Suppe aus Pferdefleisch! Und matschiges Brot Wer frißt 'n das da?«

«Wintereinlagerung! Vorratswirtschaft! Verstehste aber nicht! Und nun schwirr ab, sonst hau ich dir eine Meldung wegen Transportbehinderung vor den Kühler! Wen fährste denn da spazieren?«

«Den zukünftigen Leiter der Charite! Kennste de Charite?«

«Nee!«

«Siehste!«Knösel ließ den Motor wieder an.»Der eine kennt det Fressen, der andere hat Kultur!«

Knatternd fuhr er weiter, oberhalb der Gontschara-Schlucht vorbei, in Richtung auf Pitomnik. Er fuhr jetzt quer durch die Steppe, die wie ein beschmiertes Butterbrot flach vor ihnen lag. Noch staubte es hinter seinem Wagen, aber der Himmel sah schon nach Kälte aus. Dr. Körner schlief fest und mit langen, ruhigen Atemzügen. Knösel stopfte seine Pfeife mit Machorka und blies den Qualm in dicken Wolken von sich. Kenner behaupteten, er müsse eine Lunge aus Leder haben, um das auszuhalten.

Wie ein großer Junge sieht er aus, dachte Knösel bei einem Seitenblick auf den schlafenden Körner. Und Arzt ist er schon! Und ab morgen verheiratet. Das war ein Punkt seines Denkens, wo bei Knösel das Verständnis aufhörte. Heiraten ohne Braut und Hochzeitsnacht, nur so auf dem Papier… das blieb ihm unbegreiflich.

«Wie 'ne Molle ohne Schaum!«hatte er bei dem Bekanntwerden der Ferntrauung gesagt.»Wenn ick mir de Hochzeitsnacht nur träumen soll, vazichte ick drauf!«