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Stabsarzt Dr. Portner wurde in diesen Tagen vor ein medizinisches Rätsel gestellt. Vor ihm starben Männer ohne den geringsten Anlaß. Tote wurden ihm gebracht, die im MG-Loch einfach umgesunken waren, die beim Graben umkippten, die im Bunker beim Kartenspiel vom Sitzbrett fielen oder beim Schreiben eines Briefes zusammensanken. Es war ein lautloser Tod, ein Sterben in Samtschuhen.

Von verschiedenen Truppenteilen wurden sie ihm in den Kinokeller gebracht; weil ihr Tod so merkwürdig war, warf man sie nicht einfach in ein Granatloch und schüttete es zu, sondern nahm die Mühsal auf sich, sie durch das Feuer der Kampflinie zum Lazarett zu tragen.

«Verstehen Sie das, Körner?«fragte Dr. Portner. Auf dem Operationstisch — einem mit Wachstuch überzogenen Küchentisch — lag die nackte Gestalt eines dieser Toten. Ein knochiger Körper, ein junges, aber im Schrecken der Schlacht vergreistes Gesicht. Auch dieser Mann war einfach umgefallen und gestorben. Er sah nicht verhungert aus, er zeigte keine Anzeichen von Vergiftung, er war — wie die Männer, die ihn brachten, berichteten — nicht so erschöpft gewesen, daß er an Herzschwäche sterben konnte. Er hatte sogar gelacht, hatte einen Witz gemacht, sich gegen den Grabenrand gelehnt und war plötzlich tot.

«Wir müssen das dem Korps melden«, sagte Dr. Portner.»Vielleicht haben andere Kollegen die gleichen Beobachtungen gemacht.«

Dr. Körner gab die Meldung durch das Feldtelefon nach Pitomnik weiter. Von dort antwortete ihm ein Oberarzt. Professor Abendroth war ausgeflogen worden. Er rang im Hauptquartier der Heeresgruppe um Medikamente und Verbandmaterial und erfuhr dort zu seinem sprachlosen Erstaunen, daß davon mehr als genug im Kessel sei. Man legte ihm Listen vor, die genau Aufschluß gaben. Nach diesen Transportunterlagen hatte die 6. Armee eine reichliche Sanitätsausrüstung.

«Aber an der Front ist nichts! Absolut nichts!«schrie Professor Abendroth hochrot vor Erregung. Man hob die Schultern, sah ihn hilflos an und schwieg.

Der Oberarzt notierte sich die Meldung des Feldlazaretts III in Stalingrad.»Sehr interessant«, sagte er.»Bitte reichen Sie einen genauen schriftlichen Bericht ein. Mir liegen ähnliche Beobachtungen von verschiedenen Stellen vor. Ich werde es weiterleiten zum Oberbefehlshaber. Irgend etwas stimmt da nicht… da haben Sie recht. Ich danke Ihnen. Ende.«

Die Rückkehr Iwan Iwanowitsch Kaljonins zu seiner Truppe im >Tennisschläger< war eine helle Freude. Ein Melder erschien, schrie nach dem Major und berichtete, Kaljonin, der Tote, sei wieder da. Das hörte auch Vera Kaijonina, ließ eine Spritze fallen, stieß einen Jubelruf aus und stürzte auf den Rotarmisten zu.

«Wo ist er, Genosse, wo? Sag es doch! Brüderchen, wo ist er? Ist er gesund? Hat er etwas abbekommen..?«

«Ein bißchen blaß ist er, Genossin. Aber sonst ist er ganz da…«Der Soldat grinste. Kubowski nickte der Pannarewskaja zu.

«Bis nachher, Olgaschka…«

«Du kannst mitgehen«, sagte die Ärztin zu Vera Kaijonina.»Für eine Stunde…«

Sie rannten aus dem Keller, krochen ein Stück über ein Trümmerfeld, das von einer deutschen Pakbatterie eingesehen wurde, und kamen atemlos im Befehlsstand des Majors an. Kaljonin saß am Tisch, aß ein Brot mit Schmalz, trank heißen Tee und zwischendurch ein Gläschen Wodka.

«Wanja!«schrie Vera, als sie in den Bunker stürzte.»Mein Wanja!«Sie fielen sich in die Arme, herzten und küßten sich, und erst dann nahm Kaljonin stramme Haltung an und meldete sich bei seinem Kommandeur zurück.

«Mladschij Sergeant Kaljonin zurück. Auftrag erfüllt. Deutsche Batterie vernichtet. War einige Tage in einem Keller verschüttet.«

«Und wer hat dich 'rausgeholt?«fragte Kubowski.

«Ein deutscher Soldat.«

«Und wo ist der deutsche Soldat?«

Kaljonin sah seinen Major dumm an.»Weg! Zu seinen Leuten.«

«Hat man so etwas schon gehört!«Kubowski sah Kaljonin böse an.»Fängt einen deutschen Soldaten und nimmt ihn nicht mit!«

«Er hat mich vom Tod errettet, Genosse Major!«

«Dann hättest du dankbar sein und ihn mitbringen müssen! Jetzt wird er sterben!«

«Er wollte nicht. Und er weiß, daß er sterben muß…«

Major Kubowski schlug mit der Faust auf den Tisch, das Telefon tanzte klirrend.»Das ist es ja, das Schreckliche bei diesen Deutschen. Alle wollen sie Helden sein, und am Ende sind sie verratene Idioten! Daß sie es nicht begreifen! Warum kämpfen sie noch in Stalingrad? Warum retten sie sich nicht?«

Und da sagte Kaljonin etwas, was er in seinen weltanschaulichen Schulungen nicht gehört hatte.»Würden Sie sich retten, Genosse Major? Sie haben es nicht getan, als die Deutschen uns umzingelt hatten und wir allein standen, dreiundvierzig Mann, in einem Silo… Wissen Sie es noch, Genosse Major?«

Kubowski wußte es, und er verstand seinen Sergeanten. Soldaten haben wirklich ein merkwürdiges Gehirn, dachte er. Es hat auswechselbare Drähte. Sonst denkt es normal, aber sobald man eine Uniform anhat, gibt es andere Kontakte. Dann denkt und tut man etwas, woran man früher nie gedacht hat. Überall ist es so, bei uns und bei den Deutschen und sicherlich auch bei den Chinesen. Ein Soldat ist ein besonderer Mensch. Gott sei’s geklagt!

Die Tage in dem nassen Grab hatten Kaljonin doch mehr zugesetzt, als er wahrhaben wollte. Kubowski erkannte es an dem Flattern seiner Hände und dem Zucken um die Augen. Die Nerven, dachte er. Man kann’s verstehen! Lebendig begraben sein, das zerreißt die Seele.

«Lassen Sie sich untersuchen, Iwan Iwanowitsch«, sagte Kubowski zu Kaljonin.»Vera wird Sie zum Lazarett fuhren. Ich werde mich morgen nach Ihnen erkundigen.«

Ein Grund, wieder zu Olgaschka zu kommen, dachte er zufrieden. Es ist doch merkwürdig mit der menschlichen Seele. Da liegen wir in den Trümmern und haben den Tod über uns, wir krallen uns in der Erde fest, wir bluten und sterben… aber dann ist da eine stille Minute, ein Atemzug Ruhe, und was tun wir? Wir lieben! Wir lieben inmitten von Leichen. Und wir sind glücklich trotz der Schrecken.

Im Lazarett, das sie mit Mühe erreichten, weil Kaljonin plötzlich zusammenfiel, in den Trümmern liegenblieb, mit offenem Mund japsend in den Himmel starrte und stöhnte:»Ich bin wie gelähmt, Täubchen. Ich kann nicht mehr laufen… ich bin gelähmt…«, aber dann doch weiterkroch, weil ihn Vera mit übermenschlicher Kraft hinter sich herzog, legte ihn die Pannarewskaja gleich auf eine Strohmatratze, über der sogar eine Decke lag und am Kopfende ein weiches Kissen. Auch ein Spiegel hing an der Wand, ein Waschbecken aus Marmor in einem eisernen Ständer… es war direkt ein freundliches Zimmer, in das sie Kaljonin führte. Vera Kaijonina blieb an der Tür stehen.

«Das ist doch Ihr Zimmer, Genossin Oberleutnant«, sagte sie unsicher.

«Natürlich. «Die Pannarewskaja lächelte sacht.»Der Major hat mir erzählt von eurer Hochzeit. Soviel ich weiß, hattet ihr nie Zeit füreinander…«

Kaljonin wurde rot wie ein kleiner Junge. Auch Vera senkte den Kopf. Sie antworteten nicht, und es war auch nicht nötig, denn die Pannarewskaja hatte das Zimmer verlassen und die Tür verschlossen. Iwan Iwanowitsch atmete tief auf.

«Welch eine Frau«, sagte er leise und schüchtern.»Schließt uns einfach ein… Und ein richtiges Bett ist da. «Er legte sich auf die Matratze, dehnte sich, schloß die Augen und breitete die Arme aus. Ober ihm wummten die Einschläge der deutschen Granaten, Wände und Boden zitterten, aber das störte ihn nicht. Er kam in eine glückliche Stimmung und fühlte sich plötzlich stark und gesund.»Komm, Veraschka«, sagte er leise und zärtlich.»Komm zu mir… es ist eine breite, weiche Matratze…«

Später lagen sie Brust an Brust und sahen sich in die glänzenden Augen und die verschwitzten, geröteten Gesichter.