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«Unser Pastor«, sagte einer der Landser heiser.»Pastor Sanders… er machte bei uns die Weihnachtsfeier. Da kam der Iwan mit 'nem Stoßtrupp, wir 'raus in'n Graben, und plötzlich steht der Pastor auch im Graben und trägt die Verwundeten in'n Bunker. Und da hat's ihn erwischt, verdammt noch mal…«

Wallritz schnitt die Uniform auf. Aus einer breiten Schulterwunde floß Blut in Strömen. Er drückte eine dicke Lage Zellstoff darauf und rannte in den großen Keller. Durch die Singenden bahnte er sich einen Weg zu Dr. Portner, der ihm bereits entgegenkam.

«Was ist, Wallritz? Haben sie einen General eingeliefert?«

«Nein, Herr Stabsarzt. Aber ein Pastor ist da. Pastor Sanders.«

Dr. Portner hob die Schultern.»Sagen Sie dem Herrn, sein Kollege Webern zelebriert bereits die deutsche Seele. Aber wenn er will, kann er auch auf evangelisch die Stille Nacht singen lassen…«

«Er ist schwer verwundet, Herr Stabsarzt…«

Dr. Portners Gesicht wurde sofort hart, der Spott verlor sich. Er wandte sich zu Pfarrer Webern am Altar.

«Pastor Sanders ist da, Pfarrer. Verwundet. «Paul Webern ließ die gefalteten Hände sinken.

«Wo? Ich kenne ihn gut. Wir müssen sofort zu ihm.«

«Er ist nebenan.«

Dr. Portner rannte Wallritz nach, der bereits im Nebenkeller verschwunden war. Auch Pfarrer Webern rannte durch die singenden Reihen. Aber es störte die Feier nicht. Die Lichter am Altar und am Lattenbaum brannten, und es war so, als sähe man das alles nicht, als wären die Herzen weit, weit weg aus der verschneiten Steppe in einer warmen, nach Äpfeln, Nüssen und Lebkuchen riechenden Stube, in der ein Tannenbaum brennt, in der Kinderstimmen singen und sich bunte Kugeln im Lichterglanz drehen…

Dr. Portner beugte sich über Pastor Sanders. Dieser hatte die

Augen wieder offen, er war bei Besinnung und erkannte seine Umwelt.

«Sie hier, lieber Webern?«sagte er schwach und hob mühsam die Hand. Pfarrer Webern ergriff sie und drückte sie.»Daß wir uns so wiedersehen müssen…«

«Am Heiligen Abend. Gibt es einen besseren Tag, lieber Sanders?«Pfarrer Webern blickte kurz zu Dr. Portner. Der schüttelte den Kopf. Keine Lebensgefahr, hieß das. Wenn er fachgerecht versorgt wird, wird er überleben.

Fachgerecht… das hieß: Ausfliegen. Hinaus aus dem Kessel von Stalingrad, dem Massengrab von dreihunderttausend deutschen Soldaten.

Pfarrer Webern hielt Pastor Sanders’ Hände fest, als Dr. Portner und Feldwebel Wallritz die Wunde reinigten. Sanders knirschte mit den Zähnen, aber er schrie nicht. Nur seine Nägel krallten sich in die Handrücken seines katholischen Kollegen.

Im Hauptkeller sangen sie noch einmal die erste Strophe.»… schlaf in himmlischer Ruh’…«Und es waren in diesem Augenblick nur wenige, die an den ewigen Schlaf dachten.

«Mit dem nächsten Transport, morgen nacht, kommen Sie nach Gumrak, Pastor«, sagte Dr. Portner.»Ich gebe Ihnen Knösel mit. Er wird dafür sorgen, daß alles glatt verläuft.«

«Nach Gumrak?«Pastor Sanders drehte den Kopf zu Pfarrer Webern.»Warum Gumrak?«

«Sie werden sofort ausgeflogen, Sanders.«

Pastor Sanders sah von dem Arzt zu seinem katholischen Amtsbruder, von Feldwebel Wallritz zu den Klappstühlen an den Wänden, auf denen die anderen Verwundeten warteten, eisverkrustete Gestalten, eingemummt in Zeltplanen und steif gefrorene Decken.

«Nein!«sagte er. Und lauter, sich mühsam aufrichtend:»Nein!«

Dr. Portner und Wallritz sahen sich kurz an. Es war nicht nötig, daß sie ihre Gedanken aussprachen. Man wird Pastor Sanders gar nicht fragen, hieß dieser Blick. Knösel, der Unverwüstliche, wird ihn aus der Stadt schleppen. Bei den Artilleriestellungen und der Feldbäckerei wird es schon ein Fahrzeug geben, das sie weiterschafft nach Gumrak. Vor allem, weil es ein Pastor ist.

Pfarrer Webern setzte sich neben seinen evangelischen Kollegen auf den Kellerboden. Dr. Portner und Wallritz gingen zurück in den großen Keller. Die Weihnachtsfeier war beendet. Nun saßen und lagen die verfaulenden Gestalten herum und starrten auf die Kerzen, stumm, mit gefalteten Händen, die Gedanken weit weg in einer warmen Stube, in der früher um diese Zeit der Weihnachtsbraten aufgetragen wurde. Auch oben, in der Hölle, war es merkwürdig still. Die sowjetischen Granatwerfer schöpften Atem, die Stoßtrupps der Rotarmisten lagen zwischen den Trümmerbergen, hockten auf zerborstenen Häuserdecken, klebten hinter Mauerresten und sahen hinüber zu den deutschen Bunkern und Erdhöhlen.

Auf dem zerfetzten Turm eines Panzers flackerte eine dicke Kerze in einem Glas… Hindenburglichter irrten wie Glühwürmchen durch die geborstenen Häuser… auf einem Trümmerberg lag ein Toter auf dem Rücken, steif gefroren, den Arm nach oben

fereckt, als habe er noch mit dem letzten Atemzug die Sterne erabreißen wollen oder das Auge Gottes, damit es diese Qual von Hunderttausenden erkenne. Es mochte auch sein, daß er den Arm gegen eine Wand gestützt hatte, sich festkrallend, hoffend, doch noch leben zu können, bis eine neue Detonation ihm auch diesen letzten Halt raubte. Er merkte es nicht mehr, er war schon gestorben und sein Arm, hoch gereckt, vereist. Nun stach sie in den Nachthimmel, eine Hand, die nach Halt schrie… und jemand hatte in diese Hand eine Kerze gestellt. Sie brannte weithin sichtbar von diesem Trümmerberg, flackerte hinüber zu den Rotarmisten, die zwischen den zerfetzten Mauern lagen — ein Licht in der Schale einer Hand, deren Finger Gott um Hilfe riefen.

Es war der grausamste und treffendste Weihnachtsbaum von Stalingrad.

… Friede auf Erden… und den Menschen ein Wohlgefallen.

Im Norden der Stadt wurde noch geschossen. Durch die Ruinenwüste des Werkes >Roter Oktober< rannten geduckt die pelz-mützigen Rotarmisten. Unter verbogenen Eisenträgern hervor ratterten die MGs. Hier ging es um Meter, um eine Hallenecke, um eine zerrissene Maschine, um die Breite eines Deckenträgers… die Perfektion eines Wahnsinns.

«Ich gehe nicht«, sagte Pastor Sanders und lehnte sich gegen Pfarrer Webern.»Sie werden es verstehen, nicht wahr?«

«Nein, lieber Amtsbruder«, sagte Webern. Sanders drehte mühsam den Kopf zu ihm.

«Wir haben doch die Pflicht, als Seelsorger — «

«Sie haben diese Pflicht erfüllt, Sanders. Nun ist es Ihre Pflicht, zu überleben… Sie haben eine Familie, Sie haben eine Frau und drei Kinder…«

«Ich bleibe bei meinen Jungs!«Pastor Sanders’ Kopf fiel auf Weberns Schulter. Er atmete röchelnd, in der zerschossenen Schulter bohrte der Schmerz, als läge sie in glühender Asche. Wallritz hatte ihm nur die Hälfte der schmerzstillenden Injektion geben können. Sparen, hatte Dr. Portner gesagt. Auch beim Pfarrer! Der Tag war auszurechnen, an dem es überhaupt keine Medikamente mehr gab. Die Kisten, die man auf dem Flugplatz Gumrak aus den Ju 52 auslud, blieben auf dem Weg in die Stadt irgendwo liegen… schon in Gumrak selbst, wo zehntausend Verwundete herumlagen und verfaulten. Die Sanitätskisten, die wirklich verladen wurden, kamen bis an den Stadtrand. Dort waren die großen Krankensammelstellen, die alles aufnahmen, was aus den Trümmern Stalingrads nach hinten gekrochen kam. Was hier übrigblieb an Medikamenten, nahmen Melder oder Kuriere mit in die Hölle. Ein Bruchteil dessen, was jeden Tag in Gumrak landete. Es half nichts, daß Dr. Portner tobte, daß außer ihm die anderen Kellerlazarette Alarm schrien und bei den Divis ions stäben anriefen… die Heeresoberapotheker meldeten ihre Listen, legten die Zahl der eingeflogenen Kisten vor, die Transportpapiere, die quittierte Auslieferung… mehr konnte man nicht tun. Was jenseits der Schreibstuben vor sich ging, entzog sich der Kontrolle der Beamtenschaft. Es war genug, daß man selbst seine Pflicht gewissenhaft erfüllte.

Der Schmerzanfall verflog. Pastor Sanders wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Die vereiste Uniform taute auf, er lag in einer Pfütze von Schneewasser, in seinen Stiefeln staute es sich und weichte die Füße auf.