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«Sie bleiben doch auch, Webern…«, sagte er mit knirschenden Zähnen.

«Ich habe keine Familie. Meine Familie sind meine Gläubigen.«

Pfarrer Webern nestelte die Feldflasche von seinem Koppel und setzte sie Pastor Sanders an die zitternden Lippen.»Trinken Sie noch mal. Eine Fingerspitze Tee in Schneewasser… aber ein Schuß Wodka ist drin. Wir fanden ihn im Brotbeutel eines toten Russen. Im übrigen sollten wir jetzt nüchtern denken, lieber Amtsbruder. Sie haben die Chance, ausgeflogen zu werden. Sie werden in das Leben zurückkehren. Und das ist Ihre Pflicht! Nicht allein gegenüber Ihrer Frau und den Kindern, sondern auch uns gegenüber. Verlassen Sie dieses Massengrab, überleben Sie… und dann reden Sie! Erzählen Sie denen in der Heimat von Wolga und Don und wie es hier wirklich aussieht! Schreien Sie hinein in die Sendungen des Großdeutschen Rundfunks: Nein! Das ist kein Heldenkampf mehr… das ist ein Hinmorden von dreihunderttausend deutschen Landsern und ebenso vielen russischen Vätern und Söhnen! Das ist keine Gotenschlacht — wenn ich dieses Wort schon höre! — , sondern ein Verbrechen, ein geschichtliches Verbrechen! Hier wird abgeschlachtet, weiter nichts. Und während sie im Radio Beethoven und Wagner und Liszt spielen, sooft der Name Stalingrad fällt, verrecken hier in den Kellern und Erdhöhlen Tausende von Menschen, verhungern, vergreisen, werden wahnsinnig, verbluten, werden vom Eiter zerfressen! — Das, lieber Sanders, ist Ihre Aufgabe, das müssen Sie denen in der Heimat erzählen. Dafür sollten Sie leben! Und darum werden Sie auch ausfliegen.«

«Und Sie, Webern?«

«Ich bleibe hier und verfaule mit. Ich werde mein Kreuz jedem hinhalten und nicht fragen: Bist du katholisch… bist du evangelisch?! Im Sterben sind wir alle gleich, und im Ruf nach Gott gibt es keine Unterschiede. Oder glaubt man, Christus steht an der Pforte des Himmels und sortiert die Gläubigen?«Pfarrer Webern legte den Arm um Pastor Sanders. Es war eine Geste inniger Verbundenheit.»Gehen Sie ins Leben zurück, Sanders… eine Stimme, die von Gott spricht, genügt jetzt…«

Pastor Sanders nickte. Kurz darauf schlief er vor Erschöpfung ein. Webern und ein leicht verwundeter Soldat trugen ihn zu einem Strohsack an der Kellerwand. Er war gerade frei geworden… der junge, blonde Landser, der auf ihm gestorben war, lag jetzt im Totentrichter 7, einem großen Minentrichter, in den nach vorsichtigen Schätzungen etwa 300 Tote hineingingen. Natürlich gut gestapelt, einer neben dem anderen und über dem anderen, unter Ausnutzung des vorhandenen Platzes. Eine geballte Kompanie, noch im Verschimmeln ausgerichtet. Trichter 1 bis 6 waren schon gefüllt. Die Mühe des Zuschüttens sparte man sich… das besorgte die Artillerie, die die Trümmer immer wieder umdrehte, so wie man einen Teig durchknetet, damit sich alles in ihm gut verteilt.

Die Nacht zum ersten Weihnachtstag blieb still. Man benutzte sie dazu, Nachschub heranzuschaffen. Aus den Steppenstellungen, den Zeltlagern und Erdbunkern zwischen Gumrak und Stalingrad, Gorodischtsche und Kuperassnoje, Karpowka und Baburkin zogen die grauen Gestalten in die vorderen Stellungen. Auch die Sowjets gruppierten um. Über das Eis der zugefrorenen Wolga rollten neue Panzer heran, frische Bataillone aus Sibirien und von den Grenzen der Mandschurei, Geschütze und Werkstätten, und immer wieder Menschen… Menschen… in dicken Steppmänteln, in Schafspelzen, mit Pelzmützen, gut genährt und ausgeschlafen, siegessicher und mit Haß gegen die Deutschen bis in die Mundhöhle gefüllt. Mit ihnen kamen die Propagandafunktionäre, Volkskommissare aus den Parteischulen von Moskau und Swerdlowsk. Sie verhörten die deutschen Kriegsgefangenen und sprachen den Rotarmisten, die seit dem Sommer in den zerwühlten Straßen ihrer Stadt lagen, Mut und Siegeswillen zu. Und sie brachten zu essen mit… auf jedem Panzer, der über das Eis der Wolga donnerte, klebten Kisten mit Verpflegung, Säcke mit Bohnen und Grütze, getrocknetem Fisch und Kapusta, Mehl und Sojaschrot.

Es war der 25. Dezember 1942, der erste Weihnachtstag. Das Armeeoberkommando gab die neue Lebensmitteleinschränkung bekannt mit dem Befehl, diese Kürzung erst am 26. Dezember bekanntzugeben, um die Weihnachtsstimmung nicht zu gefährden. Auch Dr. Portner bekam telefonisch diese neue Anweisung des Oberquartiermeisters der Armee durchgesagt und notierte sie sich.

«Hören Sie sich das an, Körner«, sagte er bitter. Die Brotration wird auf fünfzig Gramm pro Tag beschränkt. Mittags ein Liter Suppe aus Hülsenfrüchten, abends etwas Büchsenverpflegung oder ein zweites Süppchen… Man macht sich wirklich Mühe mit unserer Speisekarte. «Er hieb mit der Faust auf den Tisch und hielt dann die Kerze fest, einen Stummel, der für den Abend ausreichen mußte.»Rufen Sie zurück, Körner: Menü a la Hungerkünstler verstanden. Fragen an, wann Hülsenfrüchte frei Haus geliefert werden. Kreuzdonnerwetter noch mal… wenn weiterhin solche Anrufe kommen, sollte man in die Hörer kotzen!«

Immerhin war an diesem Tag und in der Nacht zum 26. Dezember ein Kommen und Gehen zwischen den Trümmern, den Kellern, in den Laufgräben, von Trichter zu Trichter. Was Dr. Portner nie geglaubt hatte, wurde Wahrheit: Nachschub kam heran! Vier Kisten mit Medikamenten, von der Bäckerei sechs Säcke heiße

Brote, vier Kartons mit Schmalzfleisch, ein Sack Grieß, zwei Säcke Mehl… Dr. Portner stand sprachlos vor diesen Schätzen und begriff nichts mehr.

«Wo kommt denn das her?«fragte er einen jungen Leutnant, der mit vierzig Mann dieses Schlaraffenland herangebracht hatte.»Mann — wie kommen Sie an das Paradies?«

Der junge Leutnant setzte sich, holte aus dem Brotbeutel eine Flasche französischen Cognac und hielt sie Dr. Portner hin.

«Auch das noch!«sagte Portner entgeistert.

Der Leutnant nickte. Er war vor Schließung des Kessels aus Kalatsch ausgebrochen und hatte bis jetzt in Woroponowo Wachdienst in dem russischen Gefangenenlager geschoben. Als Bettelkurier war er oft mit einigen LKW nach Karpowka gefahren, um Lebensmittel zu holen. Was er dort gesehen hatte, überstieg seinen Verstand.

«Wissen Sie, was in der Steppe los ist, Herr Stabsarzt? Was sich da draußen tut?«fragte er, als Dr. Portner und Dr. Körner aus der Flasche einige Schlucke Martell genommen hatten.»Sie leben hier wie die Ratten im Keller… seien Sie froh, daß Sie nichts anderes sehen als Sterbende! Da draußen verlören Sie den Verstand. Ich habe mir einiges aufgeschrieben, was ich erfahren habe. Für später… ich werde einmal, wenn wir diese Scheiße wirklich überleben, mit diesen Notizen beweisen, welche Schweine es unter uns gab, die Tausende von uns auf dem Gewissen haben, nur weil ihr Beamtengehirn an Bestimmungen denkt. «Er holte aus der Brusttasche ein kleines schwarzes Notizbuch und las daraus vor.»In Karpowka lagern seit Wochen dreiundvierzig Waggons mit Alkohol. Es war ein Sonderzug aus Oels. In diesen dreiundvierzig Waggons befinden sich dreitausendsiebenhundertvierundsechzig Kisten mit Sekt, Branntwein, Likör und Wein. Jeden Tag knallen durch die Kälte Hunderte von Sektflaschen auseinander… aber von diesen Zehntausenden von Flaschen in den dreiundvierzig Waggons wird nichts ausgegeben, weil eine Transportbestimmung noch nicht eingegangen ist! In Jassinowotaja stehen zweiunddreißig Eisenbahnwaggons mit den Weihnachtspäckchen für die 6. Armee. Dreieinhalb Millionen Päckchen sind es! Dreieinhalb Millionen! Aus der Heimat. Mit Kuchen, mit Plätzchen, mit warmen Pullovern, mit Wollsocken, mit Ohrenschützern, mit Pulswärmern, mit lieben Briefen, mit Äpfeln und Nüssen… Aber sie liegen da, wurden ausgeladen und gestapelt, mit Zeltplanen überdeckt und verfaulen… Und warum? Weil kurz vor Weihnachten die Eisenbahntruppe im Kessel mangels Brennstoff den Zugverkehr einstellte! Die Zahlmeister aber haben die Anweisung, die Weihnachtspäckchen per Bahn zu den Truppen zu befördern! Es fährt keine Bahn… also wird nicht transportiert. Auch wenn täglich Hunderte von Lastwagen vorbeikommen, die die Päckchen mitnehmen können! Nein, das geht nicht! Das steht in keiner Bestimmung!«Er hielt die Flasche noch einmal hoch.»So, nun trinken Sie noch mal, Herr Stabsarzt. Man muß besoffen sein, um das zu begreifen! Wissen Sie, was ich getan habe? Ich habe mir einfach’ das genommen, was ich nehmen konnte. Ich habe alles, was Sie hier sehen, organisiert, aus den Lagern um Stalingrad, die zum Teil überlaufen von Material, auf dem die Zahlmeister sitzen wie brütende Glucken. Ein Tatbericht ist unterwegs… ich habe einen dieser fetten Beamten geohrfeigt und in sein Zimmer eingesperrt, bis meine Leute sich beladen hatten. Mir ist wurscht, was kommt… ich möchte den sehen, der mich deswegen hier aus den Trümmern ’rausholt! Und nun trinken Sie, Doktor…«