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Am Abend des 26. Dezember war Knösel reisebereit. Er hatte eine schöne Zeltplane organisiert und zwei starke Männer, die unter seiner Oberleitung Pastor Sanders zum nächsten Sammelplatz tragen sollten. Die Fahrt mit dem LKW wollte Knösel dann allein fortsetzen. In Gumrak muß es was zu fressen geben, hatte er verkündet. Und Knösel kommt nicht ohne zurück!

Nun tappte er durch die Keller des Kinos und suchte Pastor Sanders. Das Kommen und Gehen des Nachschubs und der Verwundeten erschwerte das Suchen. Sanitätsfeldwebel Wallritz sah ratlos auf den Strohsack, auf dem Pastor Sanders noch vor vier Stunden gelegen hatte. Wallritz wußte es genau, er hatte Sanders neu verbunden und ihm als erstem Sulfonamidpuder auf die Wunde gestreut, Puder, der gerade mit den Medikamentenkisten angekommen war. Nun lag ein aschgrauer Unteroffizier auf dem Strohsack; das Bein war ihm weggerissen, und das Fleisch des Schenkels über dem Verband war rot-schwarz. Wundbrand, dachte Wallritz. Hoffnungslos. Aber wo ist der Pastor?

Mit Knösel rannte er von Keller zu Keller. Sie riefen den Namen Sanders, sie gingen von Körper zu Körper. Pastor Sanders war nicht mehr da.

«Warten Sie hier, Knösel«, sagte Wallritz heiser.»Ich hole den Chef.«

Auch Dr. Portner, der sofort mit Pfarrer Webern in den großen Keller kam, konnte nur auf den Strohsack mit dem sterbenden Unteroffizier starren und die Schultern zucken. Pfarrer Webern umklammerte sein Brustkreuz.

«Ich habe so etwas geahnt«, sagte er leise.»Er wollte nicht weg…«

«Aber um Himmels willen, wo ist er denn hin?«schrie Portner.»Mit dieser Verwundung?!«

«In irgendeinen Keller… bei anderen Verwundeten, bei Sterbenden, bei auf den Tod Wartenden, neben einem MG…«Pfarrer Webern senkte den Kopf.»Ich gebe es zu… ich wäre auch nicht aus der Stadt gegangen.«

«Mein Gott… dieses Heldentum stinkt widerlich!«schrie Dr. Portner.»Können die Deutschen nicht aufhören, ein Volk von Selbstmördern zu sein unter der Maske des Heroischen?«

«Sie sehen es falsch, Doktor. «Pfarrer Webern tastete wieder nach seinem kleinen goldenen Brustkreuz. Auch ich brauche Kraft, dachte er. Mehr Kraft, als ihr alle ahnt. Ich habe Angst vor dem Tod, hündische Angst. Aber ich darf sie nicht zeigen… ich muß trösten und beten und Augen zudrücken und Gott um Gnade bitten. Auch für mich… Mein Gott, gib mir Kraft, immer wieder Kraft. Auch ich bin nur ein Mensch und habe wie sie alle Angst…»Gott hat mich hier hingestellt, und wo er mich hinführt, da bleibe ich, bis er mich weiterruft. Mein Platz ist dort, wo man beten will… ob in einem Granattrichter oder auf einem Kaminrest, im Eisengeflecht einer Betondecke oder in einer Kanalröhre oder hier, bei Ihnen, in der Unterwelt aus Blut und Eiter. Ich glaube, auch Sie verstehen Pastor Sanders…«

Dr. Portner gab darauf keine Antwort. Er wandte sich ab und stapfte in seinen Operationskeller zurück. Knösel stand mit hängender Pfeife neben Pfarrer Webern und saugte schmatzend am trockenen Mundstück.

«Wat denn nun?«fragte er.

«Fehlmeldung, Knösel.«

«Aba ick muß doch nach Gumrak. Alles is orjanisiert. Ne scheene Zeltplane… Pastor hin, Fressen zurück… so hab' ick mir det jedacht. Und nu?«Er kratzte sich den Kopf, wozu er den

Stahlhelm nach vorn über die Augen schob.»Weit kann er nich sein«, sagte er dumpf, weil der Helmrand auf die Nase drückte.

«Wer?«Pfarrer Webern starrte auf den weißgestrichenen Helm vor sich.

«Der Pastor. Mit der zerschossenen Schulter… und vor ’ner Stunde war er doch noch da! Ick jeh ihn suchen.«

«Knösel! Sie bleiben!«

Pfarrer Webern hielt ihn am Ärmel fest. Knösel überlegte, ob er sich mit einem Ruck befreien oder höflich bleiben sollte. Ist’n geistlicher Herr, dachte er. Bleib also friedlich, Hans.

«Außadem muß ick ihn sprechen. Ick hab’ was auf’n Herzen. Und er ist doch mein Pastor, nich?! Ick kann mir erinnern, wat Se vorhin in der Morgenpredigt im Keller 3 jesagt haben: Man soll Jott suchen… Also denn… ick suche ihn!«

«Knösel!«Pfarrer Webern griff ins Leere, als er erneut zufassen wollte. Der Obergefreite Schmidtke war bereits die steile Treppe hinauf. Vier Mann mit Kisten, die die Treppe heruntertappten, verhinderten ein Nachlaufen. Pfarrer Webern sah noch, wie Knösel über die Verwundeten stieg, die auf den Treppenstufen lagen und warteten, wie auf einem holprigen Transportband nach unten geschoben zu werden.

Dr. Portner, Dr. Körner und Feldwebel Wallritz saßen dicht vor einem kleinen Batterieempfänger und lauschten, als Pfarrer Webern aufgeregt in den Operationskeller stürmte.

Aus dem runden Lautsprecher tickte es. Klar und deutlich.»Tick… tick… tick…«

«Was ist denn das?«Pfarrer Webern blieb an der Tür stehen. Auf dem Küchentisch lag ein toter Soldat, er war Dr. Körner während der Operation gestorben. Ein Bauchschuß.

«Die fröhliche Weihnachtssendung des Moskauer Rundfunks, Pfarrer. Zufällig bekamen wir sie. Hören Sie sich das mal an. Da…«

Aus dem Radio kam eine klare Stimme.

«Alle sieben Sekunden stirbt in Rußland ein deutscher Soldat. Stalingrad — Massengrab…«

Stille. Dann wieder das Ticken der Todesuhr… tick… tick tick… Siebenmal. Und wieder die Stimme:

«Alle sieben Sekunden stirbt in Rußland ein deutscher Soldat…«

Dr. Portner drehte das Radio aus. Pfarrer Webern war bleich geworden.»Wie furchtbar«, sagte er leise.

«Dämlich ist das!«Dr. Portner winkte. Wallritz und Körner hoben den toten Körper vom Küchentisch.»Nicht mal zählen kann der Iwan! Oder er ist großzügig. Alle sieben Sekunden… bei unserer deutschen Gründlichkeit geht das schneller…«

Und Pfarrer Webern vergaß, von Knösels Suchgang zu berichten.

Iwan Iwanowitsch Kaljonin hatte es sich gemütlich gemacht. Man soll es nicht glauben, aber auch so etwas gab es in Stalingrad. Wenn man keine Ansprüche an Luxus stellte, war eine Mulde zwischen zwei herabgestürzten Decken wirklich ein gemütliches Plätzchen. Hier konnte man ein Nickerchen machen, seine Zigarette aus der Prawda drehen, vor sich hinträumen, ein Liedchen singen — ich bitte, warum nicht, wenn einem der Sinn danach steht

— und ab und zu den Kopf heben und hinübergucken zu den Deutschen, ob sie auch schön brav sind und ihr Weihnachtsfest feiern.

Doppelt glücklich war Kaljonin, weil er am sogenannten Heiligen Abend beschert worden war. Nicht von Englein oder dem Weihnachtsmann — den hatten die Bolschewiki abgeschafft —, sondern von Veraschka, seinem süßen Weibchen. Plötzlich war sie in dem Haus, zwischen dessen zerborstenen Decken es sich Kaljonin so gemütlich gemacht hatte, sie war einfach da, kroch zu ihm, fiel ihm um den Hals und sagte, als sei es ganz natürlich:»Ein frohes Fest, Wanja…«Dann hatte sie ihn geküßt, hatte sich an ihn ge-kuschelt, seinen Bart gestreichelt und eine Flasche Knollenschnaps ausgepackt.

«Wo kommst du her, Veraschka?«hatte Iwan Iwanowitsch streng gesagt.»Hier ist die Front, mein Täubchen. Sie können dir die Flügelchen wegschießen. Und was dann? Los, zurück! Woher weißt du überhaupt, daß ich hier bin?«

«Von Piotr, der dir die Verpflegung gebracht hat. Er wollte erst nichts sagen, aber dann habe ich ihm ein Büchschen Sojabohnen in den Rock gesteckt. Freust du dich, Wanja?«