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«Langsamer auftauen, Herr Körner! Wir wollen doch keine Suppe von ihnen kochen…«

«Sie liegen seit drei Tagen im Eis, Herr Stabsarzt.«

«Vor allem müssen sie innen aufgetaut sein. Meinetwegen machen Sie so weiter…«

Die deutsche Gründlichkeit hatte auch hier nicht versagt. Von den Schreibstuben, die nach wie vor Buch über alles führten, was in Kompanie, Bataillon oder Regiment geschah, war die Krankenrolle der drei Toten nach Gumrak geschickt worden. Der Pathologe aus Berlin studierte interessiert die Eintragungen und verglich sie miteinander.

«Das ist hochinteressant, meine Herren«, sagte er und breitete die Krankenblätter auf dem Sektionstisch aus.»Alle Toten, die so merkwürdig ohne Anlaß umkippten, sind alte Soldaten der 6. Armee, die schon den Vormarsch mitgemacht haben. Seit September haben sie — wie ich aus der Verpflegungsliste sehe — pro Tag durchschnittlich achtzehnhundert Kalorien an Nahrung bekommen, jeder von ihnen hat im Herbst eine Gelbsucht oder eine Darminfektion überstanden, einige von ihnen hatten Malaria oder Typhus. Seit Ende November liegen sie in dieser baumlosen

Steppe, verkriechen sich in Erdlöchern, leben in Schnee, Eis und dauernder Feuchtigkeit und ernähren sich von hundert Gramm Brot und Suppen aus Fleischstücken krepierter und verhungerter Pferde — «

«Fünfzig Gramm Brot«, warf ein Stabsarzt ein. Oberst von der Haagen drückte das Kinn an den Uniformkragen.

«Nun übertreiben Sie mal nicht, Herr Stabsarzt. Erst seit vorgestern sind es fünfzig Gramm!«

«Wie dem auch sei… die Ernährung und die Unterbringung der Männer ist unzureichend…

«Hat man in Berlin auch schon gemerkt, daß Krieg ist?«fragte von der Haagen bissig.»Natürlich speist man im Kempinski besser als in einem Erdloch vor Stalingrad.«

Der Pathologe aus Berlin wölbte die Unterlippe vor.»Warten wir ab, meine Herren. Ich habe eine schreckliche Ahnung… schon vor den Obduktionen…«

Die erste Leiche, die aufgetaut, schön weich und ein wenig glitschig auf den Tisch gehoben wurde, war ein Gefreiter. Er hatte pfeifend sein Einmannloch erweitert, hatte gegraben und die ausgeschachtete Erde säuberlich als Schußdeckung um das Loch verteilt. Plötzlich hatte er mit dem Pfeifen aufgehört, hatte dumm gegrinst, war umgefallen und war tot. Er hatte vier Kinder, stammte aus Essen an der Ruhr, war Grubenelektriker und immer gesund gewesen. Bis auf Typhus, den er im Oktober am Don bekommen hatte.

Der Pathologe nickte Dr. Körner kurz zu und gab ihm die Hand. Dann verlor er keine Zeit mehr… mit einem langen Schnitt des Skalpells spaltete er den Leib vom Brustbein bis zum Schambein. Dann präparierte er sich durch die einzelnen Schichten in die Tiefe. Es war eine schnelle Arbeit… Fettgewebe war nicht mehr vorhanden, das Muskelfleisch wirkte ausgezehrt, der Körper war, wie es vereinfacht heißt, nur noch Haut und Knochen.

Brust- und Bauchhöhle waren eröffnet, die Ärzte beugten sich neben dem Pathologen aus Berlin über den Körper. Oberst von der Haagen steckte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Die aufgetauten Eingeweide begannen in der Hitze des Raumes zu riechen. Übelkeit überfiel ihn… er inhalierte den Zigarettenrauch und verließ dann schnell den Operationsbunker.

Beim Hinausgehen hörte er noch, wie der Pathologe mit klarer Stimme sagte:

«In wenigen Minuten werden wir wissen, woher der geheimnisvolle Tod in der 6. Armee kommt…«

Fast zwanzig Minuten wurde stumm seziert.

So wie man aus einem alten Auto einen Motor ausbaut, die Bremsen, das Gestänge, das Getriebe, so wurde der Körper des toten Grubenelektrikers aus Essen, Vater von vier Kindern, die noch gar nicht wußten, daß ihr Papi für Großdeutschland gefallen war, und die glaubten, er säße jetzt vor Stalingrad in einem warmen, sicheren Bunker und knabbere an den süßen Weihnachtsplätzchen, die sie ihm geschickt hatten, von dem Pathologen in routinierter Reihenfolge ausgeschlachtet.

Herz, Lunge, Leber, Eingeweide, Galle, Magen, Nieren, Dann, Blase… die Einzelteile eines Menschen häuften sich neben dem Körper auf einem Wachstuch. Dicker Tabakrauch zog träge über den Seziertisch und durch den heißen Bunker. Die Luft wurde stickig, süßlich, moderig, beklemmend. Eine Luft, die sich wie Fett auf die Haut setzte, klebrig wie Zuckerwasser.

Der Pathologe aus Berlin sah auf und dehnte sich. Der Seziertisch war etwas niedrig, man mußte mit gekrümmtem Rücken arbeiten, das ermüdete sehr. Die Marmortische in der Charite waren bequemer.

«Sehen Sie es, meine Herren?«fragte er und tippte mit einem scharfen Löffel auf die Innereien. Mit dem scharfen Löffel hatte er gerade aus den großen Röhrenknochen ein kleines Häufchen Knochenmark herausgekratzt.»Ich glaube, für uns ist der Tod jetzt kein Geheimnis mehr. Ich vermute, daß die Heeresleitung staunen wird und daß man im Führerhauptquartier sich darüber einige Gedanken machen muß. Fassen wir zusammen: Um die inneren Organe, unter der Haut, überall, wo es sein soll, ist kaum noch ein Fettgewebe vorhanden. Alle Organe sind von einer merkwürdigen Blasse, im Gekröse sehen wir eine wässerig-sulzige Masse, die Leber ist gestaut. Und dann das Herz… klein und braun, wie zusammengeschrumpft, dagegen ist die rechte Herzkammer unnatürlich stark erweitert, ebenso der rechte Vorhof. «Der Pathologe tippte mit einem Spatel auf das Häufchen Knochenmark, das er gerade abgestreift hatte.»Sehen Sie sich das an, meine Herren… statt roten und gelben Knochenmarkes habe ich eine glasige Gallertmasse herausgeholt. Fassen wir alles zusammen, ist die Diagnose ganz klar: Tod durch Überdehnung der rechten Herzkammer, Grund: völlige Unterernährung, Wärmeverlust, Er-

Schöpfung höchsten Grades. «Der Pathologe sah in die betroffenen Gesichter der Ärzte. Der Sektionsbefund war klar… es gab da kein Herumdeuteln mehr.»Das war die Todesursache dieses Toten… sehen wir uns die anderen an. Wieviel Leichen haben wir im Augenblick hier?«

«Neun«, sagte der Oberarzt heiser.

«Machen wir weiter, meine Herren!«Der Pathologe fing einen Blick Dr. Körners auf: einen fragenden, einen wissenden Blick. Er zögerte einen Augenblick und wandte sich dann dem Oberarzt zu.

«Sie werden nachher einen Vortrag über die Todesursache vor den Herren Generälen halten?«

«Ja.«

«Dann erklären Sie bitte in aller Deutlichkeit: Auch in Friedenszeiten starben viele alte Leute an einer Überdehnung der rechten Herzkammer. Auch sie fielen plötzlich um. Es war der Greisentod… Wenn hier in Stalingrad junge Leute an dem gleichen Herztod sterben, so darum, weil ihre Körper den unmenschlichen Strapazen nicht mehr gewachsen sind, weil sie die Grenze dessen, was ein Mensch ertragen kann, überschritten haben, weil sie verbraucht sind, oder — sagen Sie es klar — weil sie vor Stalingrad Greise geworden sind…«

«Das Herz der 6. Armee…«, sagte Dr. Körner leise.

Alle Köpfe flogen zu ihm herum. So leise er es gesagt hatte, in die plötzliche Stille hinein war es wie eine Explosion.

«Mein Gott…«Der Oberarzt wischte sich über das schweißnasse Gesicht.»Ich darf nicht daran denken, wie es weitergehen soll…«

Während die anderen acht Leichen seziert wurden, war Emil Rottmann nicht untätig gewesen. Er hatte sich erkundigt, wie die >Scheiße dampfte<. Bei den LKW-Fahrern, bei Munitionskolonnen, bei den Werkstätten, beim Troß, beim Wetterdienst der Luftwaffe. Er sah die Armee der Verwundeten, die in Waggons, Zelten und Holzhütten auf dem Bahnhof Gumrak darauf warteten, abtransportiert zu werden, er hörte von den verzweifelten Kämpfen um einen Platz in den Ju 52, die hinaus in das Leben flogen, er sah die Elendsschar der Verwundeten, die ihr Lebensbillett um den Hals trugen und doch am Flugfeld von Gumrak verreckten, weil sie keiner mitnehmen konnte.

«Wenn die uns nicht bis zum zehnten Januar 'rausholen oder mehr zu fressen bringen, reißen uns die Iwans den Hintern bis zum Kragenknopf auf. Weißt du übrigens, daß man einen Pferdehuf auskochen kann? Das gibt immer noch zwölf Fettaugen für 'ne Suppe…«