Emil Rottmann hörte sich das alles aufmerksam an. Die Ausweglosigkeit der Einkesselung, die Erwartung, daß in aller Kürze der Russe von allen Seiten gegen die dünnen deutschen Linien anrennen würde, um den großen Kessel vollends einzudrücken oder aufzuspalten und dann auf deutsche Hasenjagd zu gehen, erzeugte bei dem einen jene Form von Fatalismus, die alles ertragen läßt, bei dem anderen einen galligen Humor, der nichts war als ein Deckel auf der kochenden Angst. Verzweiflung sah Rottmann selten, nur bei den Verwundeten, die sich gegenseitig tottraten, um in einen LKW zu kommen oder von einer Ju 52 mitgenommen zu werden. Diese Ergebenheit in ein Schicksal, dieses Wissen, geschlachtet zu werden und nichts dagegen tun zu können, als zu fluchen, war nicht die Art Rottmanns. Er wollte leben, er wollte zurück zu seinem Schrebergarten, zurück zu der efeuberankten Laube, in der er Lotte besessen hatte, und nachher Marion, Berta und Ilsemarie.
Am Abend dieses Tages, als der große Vortrag über die Todesursache der Spontantoten der 6. Armee gehalten wurde und der Begriff vom >Herz der 6. Armee< wie Blei in den Hirnen der Ärzte und Offiziere lag, saß Emil Rottmann in einem Zimmer der Sanitätsstabsbaracke Wallritz gegenüber und rauchte hastig.
«Du«, sagte er,»ich habe mir etwas überlegt. Wer weiß, wann ich wieder nach Gumrak komme, und ob überhaupt. Du mußt mir ein Lebensbillett besorgen…«
Sanitätsfeldwebel Wallritz sah kurz auf. Er schien gar nicht zu begreifen, was Rottmann gesagt hatte.
«Was willst du?«
«Hier 'raus, mein Junge. Und du allein kannst das.«
«Idiot!«
«Hör mal zu. «Rottmann beugte sich vor. Seine Schlangenaugen waren klein und gefährlich.»Wenn du den Helden spielen willst, ist das deine Sache. Von mir aus kannst du in einem Erdloch krepieren oder beim Iwan verhungern… ich jedenfalls will weiterleben. Das ganze Großdeutschland kann mich am Arsch lek-ken, und wenn du jetzt anfängst, von Kameradschaft zu quat-schen… die Kameraden sind gefallen! Kapierst du, ich will ausgeflogen werden.«
«Nein.«
«Was nein?«
«Ich kapiere das nicht.«
Rottmann lächelte böse.»Stell dich nicht doof, mein Freund. Du sollst mich krank machen und mir einen Zettel um den Hals hängen.«
«Hau ab, Spinner!«sagte Wallritz grob und drehte sich um. Rottmann faßte ihn an der Schulter und drehte ihn mit einem Ruck zu sich zurück. Sein Gesicht war jetzt rot und zuckte.
«Wallritz…«, keuchte er.»Es ist eine Minute vor zwölf, kapierst du das nicht? Ich will abhauen! Ich will 'raus aus der Scheiße, mit dem gleichen Trick, durch den du deinen Bruder gerettet hast…«
In Wallritz setzte der Herzschlag aus. Sigbart, dachte er. Ob er schon in Deutschland ist? Oder ob sie ihn erwischt haben? Verstecken wollte er sich, bis' der Krieg zu Ende ist, sich verkriechen wie ein Hamster und dem Frieden entgegenschlafen. Wallritz wischte sich mit zitternden Händen über die Augen. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß er nie mehr an seinen Bruder gedacht hatte.
«Na also«, sagte Rottmann gedehnt.»Jetzt fällt der Groschen. Ich garantiere dir, daß ich ebenfalls den Schwerverwundeten spielen kann.«
«Du bist ja besoffen, Emil!«Wallritz' Herz schlug wieder normal. Er beobachtete Rottmann aus den Augenwinkeln. Woher weiß er etwas, dachte er. Niemand war dabei, nur Dr. Körner. Keiner kann es wissen. Aber woher weiß Rottmann, daß ich einen Bruder habe? Woher weiß er, daß wir uns getroffen haben?» Schlaf dich aus…«, sagte er lässig. Rottmann atmete schwer. Seine Fäuste lagen auf dem Tisch, dicke, derbe, brutale Fäuste.
«Hör mal genau zu, Kleiner«, sagte er heiser vor Erregung.»Glaubst du, ich hätte wirklich meine Truppe verloren? Glaubst du, ich wäre bei euch geblieben, da vorne in der dicken Scheiße, nur weil mir euer Gesicht so gut gefällt oder weil ich eisenhaltige Luft gern inhaliere? Bist du so blöd, anzunehmen, ich spielte deinen Schatten, weil ich aus lauter Perversität deine Nähe brauchte?! Nee… du bist meine Lebensgarantie, Kleiner! Ich habe hinter dem Zelt gestanden und alles mitgekriegt, als du dein Brüderlein zum Krüppel machtest und ihm das Zettelchen um den Hals hängtest. Aha, habe ich da gedacht. So wird's gemacht! Und was die können, das kann der Emil Rpttmann auch! Nur muß man die Zeit gut abpassen! Und die ist jetzt da, mein Lieber… wir sind in Gumrak, und morgen schwirre ich ab in Richtung Muttern… mit deiner Hilfe!«
«Ein Mist wirst du!«schrie Wallritz und sprang auf. Gleichzeitig überlegte er, was er tun sollte. Rottmann wußte alles, er hatte ihn und Dr. Körner in der Hand. Das war eine Tatsache, die nicht mehr aus der Welt zu schaffen war. Nicht mehr aus der Welt -
Wallritz starrte Rottmann an. Sie standen sich gegenüber, mit verkniffenen Gesichtern und zu allem bereit.
Ich sollte ihn umbringen, dachte Wallritz. Bei den Haufen von Toten, die draußen vor der Tür im Schnee liegen, untersucht keiner mehr, woran er gestorben ist.
Er will mich töten, dachte Rottmann und grinste. Ich würde es an seiner Stelle auch versuchen. Aber so einfach ist es nicht, einen Rottmann um die Ecke zu bringen. Auch nicht in Stalingrad…
«Machen wir ein Geschäft, Kumpel«, sagte Rottmann heiser.»Schweigen gegen Weiterleben. Das ist reell!«
«Nein, du Sauhund.«
«Und wenn ich Meldung mache? Einen Tatbericht?«
Wallritz biß die Zähne aufeinander.»Damit kommst du auch in kein Flugzeug, du Schwein«, knirschte er.
«Aber du gehst dabei hops! Kriegsgericht, Todesurteil, zwölf Mann… legt an… Feuer… Ich kenne das. Ich habe als Feldgendarm fünfmal einen Delinquenten bewacht.«
«Na und? Besser so sterben, als in einem Erdloch zu verhungern oder von den Russen erschlagen zu werden. Mach doch deinen Tatbericht…«
Dann dachte er an Dr. Körner. Auch ihn würde man an die Wand stellen, wegen Mithilfe. Damals hatte Dr. Körner selbstlos geholfen, und Wallritz hatte geschworen, ihm das nie zu vergessen. Durch Rottmanns Tatbericht aber wurde aus Dank ein Todesurteil. Wallritz senkte den Kopf. Über sein eingefallenes blaßgraues Gesicht zuckte es.
Rottmann erkannte, daß er in eine Sackgasse geraten war. Eine Todesdrohung in Stalingrad ist lächerlich, das empfand er auch. Sein Scheck fürs Leben war faul geworden, er hatte keine Deckung mehr. Er versuchte es noch ein letztesmal, die Angst vor der Unerbittlichkeit stieg heulend in ihm hoch.
«Mensch, denk doch mal nach…«Rottmann schwamm auf der weichen Welle.»Du hast deine alte, vergrämte Mutter zu Hause. Ob dein Bruder durchgekommen ist, das weiß keiner. Wenn nicht, dann biste der einzige Sohn. Und auf den wartet sie. Soll man ihr sagen: Der Feldwebel Horst Wallritz ist hingerichtet worden? Das bricht ihr das Herz, das bringt sie um! Für dich ist es eine Kleinigkeit, mich als Schwerverwundeten zum Flugplatz zu bringen. Und daß ich einen Platz in einer Maschine kriege, Junge, das glaubste doch auch, was? Erst mal das Lebensbillett um den Hals und die Begleitpapiere… Wallritz, Horst, Mensch, sei kein Blödian… ich weiß nicht, warum du nicht abhaust, aber ich will hier 'raus! Sei doch vernünftig…«
Während dieser kläglichen Rede war unbemerkt Dr. Körner eingetreten. Er verhielt sich still an der Tür, bis Rottmann zu Ende war. Dann sagte er laut:
«Sie sind ein seltenes Miststück!«
Emil Rottmann fuhr wie gestochen herum.
«Herr Assistenzarzt…«, stotterte Wallritz.
«Seien Sie still, Wallritz. Ich habe einen großen Teil mit angehört.«
Er kam langsam auf Rottmann zu. Der Feldgendarm duckte sich etwas, spreizte die Finger, stieß das Kinn vor.»Keine Angst, ich haue Ihnen keine 'runter! Ich freue mich nur darauf, Sie wieder mitnehmen zu können in die Stadt. Tausende Kameraden verfaulen da in den Löchern… jeden Tag verbluten Hunderte… Dreihunderttausend hungern sich von Tag zu Tag… rennen gegen die russischen Panzer an, krallen sich in ihren Bunkern fest, lassen ihr Leben für einen Meter Boden… und Sie Schwein wollen türmen…«