Am Abend erreichten sie Pitomnik.
«Ich halte es für eine Dummheit, verzeih mir, Söhnchen, aber es ist die Meinung eines alten Mannes«, sagte Pawel Nikolaje-witsch Abranow und schlürfte aus einem Unterteller heißen Tee. Sie saßen in einem Erdbunker im Steilufer der Wolga. Es war ein wohnliches Plätzchen, das sich der Greis Abranow eingerichtet hatte. Aus seinem Stadthaus hatte er noch etwas retten können, bevor er sich in den Leib der Erde verkroch wie ein Känguruh in den Muttersack. Da war ein Bett an der Wand, ein richtiges weißes Eisenbett mit einer Matratze und zwei Decken, ein eiserner Herd, der gleichzeitig Ofen war, ein Spültisch, ein Kleiderschrank, drei Stühle, ein Tisch, Töpfe und Geschirr… wahrhaftig, es war eine luxuriöse Höhle, in der sich leben ließ, wenn nicht immer die Wände wackelten, sobald eine deutsche Granate oben auf der Kuppe oder unten in der Wolga einschlug.
Um Abranow, den Greis, herum saßen Vera Tscherkanowa, sein Enkelkind, und der mittelgroße, breitschultrige und immer fröhliche Mladschij Sergeant Iwan Iwanowitsch Kaljonin.
Mit Iwan Iwanowitsch und Vera hatte es vor über einem Jahr begonnen. Damals kam der tapfere Sergeant zurück nach Stalingrad in die Traktorenfabrik >Dsershinski<, nicht weil er übrig war in der Roten Armee oder man ihn nicht brauchen konnte, sondern weil er ein Facharbeiter war, der etwas von dem verworrenen Innenleben eines Panzers verstand. Und Panzer brauchte man an allen Fronten. Im Eiltempo wurden sie gebaut, auf dem Versuchsgelände eingefahren und dann, umkränzt mit Blumen und Schildern wie >Fahr in den Sieg!< oder >Fürs Vaterland siege!<, sofort abtransportiert an die Front.
Vera Tscherkanowa wiederum war eines der vielen hundert Mädchen, die im Traktorenwerk schweißten und nieteten, die Drähte spannten und Anschlüsse verklemmten, ein fleißiges, liebes, hübsches Mädchen, vor dem die Männer an den Mützen rückten, wenn sie an ihnen vorbeiging. Denn das war kein Gehen mehr, das war ein Schweben. Und stolz war sie. Immer den Kopf im Nacken. Bis Iwan Iwanowitsch ins Werk >Dsershinski< kam und von Panzer zu Panzer kletterte und kontrollierte, ob auch alles richtig sei. Da sahen sie sich beide groß an, und sie wußten, daß von diesem Augenblick an das Leben eine andere Richtung nehmen würde. Wie ein Funken war's, der in beider Herz fiel und sich dort entzündete zu einer heißen Flamme.
«Ich heiße Iwan Iwanowitsch Kaljonin«, hatte der breitschultrige Mladschij Sergeant gesagt.»Stalingrad ist eine schöne Stadt. Hier kann man leben.«
Und Vera Tscherkanowa hatte geantwortet:»Ich heiße Vera. Es freut mich, Genosse, wenn Sie in dieser Stadt leben können…«
So dumm hatten sie dahergeredet! Aber was sie nicht sagten, sprachen ihre Augen. Und das war viel, viel zuviel auf einmal, um es verarbeiten zu können. Dazu brauchte man Zeit… Und so ging ein Jahr dahin, der alte Abranow lernte Iwan Iwanowitsch kennen und sagte:»Vera! Ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich aufzupassen. Es war ihr letzter Wunsch, bevor sie starb. Und Igor, deinem Vater, habe ich die Hand gegeben und gesagt: >Zieh in den Krieg, Söhnchen, dein Töchterchen Vera wird mein Augapfel sein!< Unser guter Igor ist vermißt, und an mir liegt s nun, alles zu entscheiden. Also sei's. Ich entscheide: Bring deinen Iwan Iwanowitsch zu mir, damit ich ihn mir ansehe…«
So war er, der alte Abranow. Immer ein wenig langatmig in seinen Reden, aber gut, herzensgut! Er hatte Kaljonin umarmt, seinen Bruder genannt, zwei Gläschen Wodka mit ihm geteilt, sich über Politik unterhalten und herausgefunden, daß er ein guter Mensch sei. Dann stießen die Deutschen vor, sie überrannten den Don, sie kamen zur Wolga, und Iwan Iwanowitsch vertauschte den Monteurkittel wieder mit der Uniform, ergriff seine Maschinenpistole und wurde einem Sonderkommando des städtischen Verteidigungskomitees zugeteilt. Es hatte sich mitten in der Neustadt, ein paar Häuserblocks von der Zariza entfernt, verschanzt, und wie gegen den >Tennisschläger< oder den Getreidesilo rannten die deutschen Bataillone vergeblich dagegen an. Auch Vera Tscherkanowa hatte sich geweigert, Stalingrad zu verlassen. Sie stellte sich dem Sanitätsdienst zur Verfügung und verkroch sich mit den Tausenden anderen in das Wolgasteilufer, verband die Verwundeten, tröstete Sterbende, begrub die Toten, kochte und trug Verpflegung herum. Manchmal tat sie auch etwas, was niemand sah: Nachts, neben Großvater Abranow auf einem Strohsack liegend, faltete sie unter der Decke die Hände und betete leise für das Leben Iwan Iwanowitschs.
Das war etwas ganz Merkwürdiges mit dem Beten; sie glaubte nicht daran, denn auf der Komsomolzenschule hatte man gelehrt: Ob es Gott gibt, kann man nicht beweisen. Aber ein doppeltes Plansoll, das kann man beweisen. Und den Sozialismus kann man beweisen. Und die Freiheit aller Schaffenden kann man beweisen. Das war einleuchtend… aber als ihre Mutter starb, an einer Lungenembolie, hatte Großvater Abranow am Bett gesessen und gebetet, und die Mutter hatte gebetet, und danach war sie so still gestorben, so voller Frieden. Vera hatte daneben gestanden, verwundert und nachdenklich. Irgendwie gibt es Kraft, hatte sie gedacht. Man soll's nicht meinen.
Jetzt, wo es um das Leben Iwan Iwanowitschs ging, hatte sie es versucht, nachts, unter der Decke. Und wirklich, es gab einen inneren Halt, sie hatte jemanden, den sie bitten konnte und der sie anhörte und dem sie alles sagen konnte, ohne sich zu schämen.»Gib mir Iwan Iwanowitsch zurück!«hatte sie gesagt.»Beschütze ihn. Laß ihn leben! Ich liebe ihn doch so. Laß ihn leben…«
Nun war es soweit: Kaljonin saß im Bunker des alten Abranow, und in einer Stunde sollte er mit Vera getraut werden. Der Standesbeamte des V. Bezirks war noch da, er hatte alle amtlichen Briefbogen, Stempel und die wichtigsten Papiere in zwei großen Blechkisten bei sich, residierte in einem aus Balken gefügten großen Bunker nahe an der Wolga und repräsentierte die kommunale Obrigkeit der Stadt. Die anderen Beamten lagen im Gebäude des Verteidigungskomitees der Partei und stemmten sich den Deutschen entgegen. Sogar Trauzeugen würden kommen. Oleg Sim-ferowitsch Odnopoff, der Leutnant Kaljonins, und Shuri Andreje-witsch Fulkow, der Kommissar für Kriegspropaganda im Befehlsstand des Frontmilitärrates.
«Ich halte es für unnötig, Söhnchen«, sagte Abranow wieder.»Warum heiraten? Morgen schon kann Vera eine Witwe sein! Man sollte warten, bis Stalingrad wieder befreit ist. Oder müßt ihr?«
«Nein, Väterchen. «Iwan Iwanowitsch wurde rot. Wahrhaftig, das konnte er noch!» Aber wir lieben uns.«
Abranow seufzte. Sie lieben sich, dachte er. O ihr Seelchen! Oben hämmern die Deutschen die Stadt zu Pulver, und sie lieben sich wie zwei Täubchen im Frühling. Man könnte philosophisch werden und sagen: Das ist die Kraft des Lebens. Aber was hilft's? Aus der Tiefe des Landes rollen dreihundertfünfzigtausend Deutsche gegen Stalingrad, eine graue Woge, die an die zerborstenen Mauern brandet. Immer und immer wieder, auch wenn die Woge rot wird von Blut. Und da wollen zwei kleine Menschlein heiraten, weil sie sich lieben! Abranow seufzte noch einmal und trank seinen Tee aus.
«Ich kann's nicht ändern«, sagte er.»Einem alten Mann hört man zu wie einem quäkenden Schaf. Heiratet also…«
Am Abend gingen sie langsam den Hang hinunter zur Wolga. Ober ihnen brannte wieder ein Stadtviertel. Es war erstaunlich, daß es immer noch Dinge gab, die brennen konnten. Die Wolgafähre, die Panzer übersetzte, lag unter dem Feuer deutscher Artillerie. Sie schwankte bedrohlich, und Abranow blieb stehen, schlug ein Kreuz und sagte laut:»Gott schütze unsere Brüder dort drüben…«Vor dem Verwaltungsbunker warteten schon Leutnant Odnopoff und Kommissar Fulkow. Auch einige Zivilisten standen herum, Freunde der Abranows. Aus Weiden und Asten hatten sie Kränze geflochten und mit bunten Bändern verziert. Sie überreichten sie Vera Tscherkanowa und sagten:»Wenn wir wieder frei sind, holen wir es nach, Veraschka. Wir haben ja nichts mehr.«