Nach einer Stunde saß Dr. Körner erschöpft auf einem Eishügel am Rand der Straße. Er konnte nicht mehr weiter. Die Steppe, die Schneewüste, die Fahrzeuge drehten sich vor seinen Augen, sie wurden rosa und blau und gestreift und gefleckt. Er schrak auf, als ihn eine Welle Schnee und Dreck überschüttete. Ein Autokühler ragte bubbernd und schwankend vor ihm auf.
«Lad dinge Patient an …«, rief jemand im breitesten Kölsch.»Äwwer mach schnell, sonst kumme die anderen nooch…«
Dr. Körner faßte Wallritz unter wie ein Kind. Er schwankte mit ihm um den Wagen herum, vier Arme griffen zu, hoben den Körper unter die Zeltplane. Der Motor heulte auf.
«Leb wohl…«, schrie Dr. Körner und hob die Hand. Er sah die großen Augen von Wallritz auf sich gerichtet, er sah, daß er etwas zurückschrie, aber es ging unter im Heulen des Motors und im Anfahren der Räder. Wieder überschüttete ihn ein Schwall von Schnee, Eis und Dreck… die Plane fiel über den Einstieg, der Wagen ratterte weiter.
«Aus dem Weg, du Rindvieh!«brüllte jemand. Eine Kolonne Kradfahrer brauste an ihm vorbei.
Zwischen Benzinfässern und Säcken mit MG-Munition lag Horst Wallritz, beide Hände über sein Gummiventil gewölbt. Sie fahren durch bis Pitomnik, dachte er. Sie haben es mir gerade gesagt. Und in Pitomnik ist es leichter, eine Maschine zu bekommen. Das sagen sie alle. In Pitomnik landen dreimal mehr Maschinen als in Gumrak.
Er drehte den Kopf zur Seite, preßte die Stirn gegen einen Benzinkanister und weinte.
Emil Rottmann blieb verschwunden.
Bei der Rückkehr nach Stalingrad fehlte er. Dr. Portner machte die vorschriftsmäßige Meldung über die Verwundung des Sanitätsfeldwebels Wallritz. Emil Rottmann meldete er als vermißt. oder versprengt. Er wollte keine Schwierigkeiten haben mit der Äußerung des Verdachts auf Fahnenflucht.
Am Abend des 31. Dezember 1942 bekam das Lazarett in den Kellern des Kinos von Stalingrad Besuch.
Der Wehrmachtsbericht hatte an diesem Tag nur einen einzigen Satz für die sterbende 6. Armee übrig:»Transportverbände der Luftwaffe versorgten vorgeschobene Kräftegruppen…«Nicht mehr. Es war genug. Zum Jahreswechsel klingt es nicht gut, wenn man sagen würde: 300000 deutsche Soldaten gehen ihrer Vernichtung entgegen. Die Lage an der gesamten Stalingradfront war hoffnungslos. Die 8. italienische Armee war nur noch ein Fragment, ein loser, aufgerissener Haufen angstschlotternder Sonnenkinder, die bei 40 Grad Kälte in Eislöchern lagen und von der Adria träumten. Bei den Heeresgruppen A und B war es nicht anders… die Kaukasusfront sollte geräumt werden, an Donez und Tschir drängten die Sowjets, die rumänischen Einheiten mußten aus der Front gezogen werden, da sie kompanieweise überliefen oder einfach die Waffen wegwarfen, die Heeresgruppe >Don< wartete mit angehaltenem Atem auf die kommende russische Offensive, die das Ende bedeuten würde… und im Kessel begann man, Suppen aus Sägemehl zu kochen und Pudding aus Fußpuder.
Am Abend des 31. Dezember 1942 traf der Neujahrsgruß aus dem Führerhauptquartier ein. Ein Funkspruch:
Die 6. Armee hat mein Wort, daß alles geschieht, um sie heraus zuhauen. Adolf Hitler
Ober das Radio kam auch der Wortlaut des Neujahrsspruches, den Hitler an Generaloberst Zeitzier, den Chef des Oberkommandos des Heeres, sandte. In den Kellern und Bunkern der Kompanie-und Bataillonsgefechts stände hörte man ihn, und man sah sich an, ungläubig, entsetzt, ratlos oder in ohnmächtiger Wut. Man löffelte seine Suppe aus Pferdeknochen und Sägemehl und tastete nach dem Brotbeutel, in dem die Feiertagsverpflegung kullerte. Genau abgezählt in die dreckigen, aufgerissenen, schwieligen Soldatenhände: fünfundzwanzig getrocknete grüne Erbsen, sechsunddreißig weiße Bohnen und eine Vierteltasse Linsen. Ein fürstliches Essen, ein feudaler Neujahrsschmaus.
Und die Stimme im Radio verlas die Grußbotschaft des Führers:
… Die 6. Armee muß aushalten. Wir werden sie entsetzen, das wird einstmals der glorreichste Sieg der deutschen Wehrmacht sein.
Auch Dr. Portner und Dr. Körner hörten die Silvestersendung des Großdeutschen Rundfunks. Sie operierten dabei. Während im Führerhauptquartier der Sekt kalt gestellt wurde, ging der Kampf um den >Tennisschläger< weiter, wurden die Trümmer der Stadt immer wieder umgepflügt, schleppte man die zerfetzten Leiber in ununterbrochener Monotonie in die Keller. Unter den großen Worten von Heldentum und glorreichstem Sieg wurde gestorben und amputiert, geschrien und gefiebert, gebetet und geflucht.
Dr. Portner sah kurz von seinem blutigen Küchentisch auf, als drei Männer in den OP-Keller traten, ein Offizier und zwei Unteroffiziere. Sie hatten wie in Friedenszeiten Koppel und Pistole umgeschnallt, einen nicht weiß gestrichenen Stahlhelm auf und bauten sich an der Tür wie zu einer Parade auf. Der Offizier, ein Oberleutnant, grüßte stramm.
«Oberleutnant Barritz von der Feldgendarmerie-Staffel V Gum-rak. Ich habe den Befehl, eine Verhaftung vorzunehmen. «Dr. Portner blickte wieder hoch.»Was haben Sie?«Er sah nicht, wie Dr. Körner wortlos seine Pinzette hinlegte, vom Küchentisch zurücktrat und seine Hände in die Waschschüssel tauchte. Es ist soweit, dachte er. Hoffentlich ist Wallritz längst jenseits des Kessels.
«Sie haben einen Assistenzarzt Dr. Körner hier?«
Dr. Portner blickte sich zu Dr. Körner um.»Was soll das, Kör-ner? Man will Sie verhaften? Wer denn? Ja, haben denn die Kerle in Gumrak Scheiße im Gehirn?!«Er hieb mit der Faust auf den Küchentisch. Der Verwundete, der darauf lag, spürte es nicht mehr. Er hatte einen Granatsplitter in der Brust und fieberte.»Was ist hier los?«brüllte Dr. Portner.
Der Oberleutnant holte aus der Meldetasche einige eng beschriebene Blätter.»Es liegt eine beeidete Anzeige vor, daß der Sanitätsfeldwebel Horst Wallritz und der Assistenzarzt Dr. Körner dem Funker Sigbart Wallritz, einem Bruder des Wallritz, zur Fahnenflucht mittels einer vorgetäuschten Verwundung verholfen haben…«
Dr. Portner zog die Schultern hoch. Er fror plötzlich in dem überheizten, stickigen Keller.
«Ist das wahr, Körner?«fragte er leise.»Halt, sagen Sie nichts… Das ist doch alles Dummheit!«
«Es ist wahr, Herr Stabsarzt.«
«Sie Rindvieh!«Dr. Portner ging auf den Oberleutnant zu.»Sie haben nichts gehört, Herr Oberleutnant«
«Leider doch, Herr Stabsarzt. Merkwürdigerweise ist auch der Sanitätsfeldwebel verschwunden.«
«Er bekam einen Lungenschuß und blieb in Gumrak.«
«Das glauben wir nicht. Die Anzeige — «
«Scheiß auf die Anzeige!«schrie Dr. Portner.»Wer hat sie gemacht?!«
«Der Feldwebel der Feldgendarmerie Emil Rottmann.«
«Der ist ja selbst abgehauen!«
«Nein, er ist bei uns und wird als Zeuge gegen Dr. Körner bereitgehalten.«
Dr. Portner wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Mein Gott, dachte er nur. Mein Gott! Er sah wieder zu Dr. Körner hinüber. Der band die Gummischürze ab und zog einen zerschlissenen Rock an. Das Gefühl, den eigenen Sohn herzugeben, wurde übermächtig in ihm.
«Was machen Sie denn, Körner?«brüllte er.»Ziehen Sie sofort die Schürze wieder an und arbeiten Sie weiter.«
Der Oberleutnant der Feldgendarmen verstaute den Haftbefehl wieder in der Meldetasche. Er war verpflichtet, nach dem Paragraphen zu handeln, eine eigene Meinung war nicht gefragt.
«Wir müssen den Verhafteten mitnehmen nach Gumrak«, sagte er steif. Dr. Portner hieb wieder auf den Tisch.
«Nein!«
«Herr Stabsarzt — «..
«Ich sage nein! Ich brauche meine Ärzte, um Menschenleben zu retten, nicht um sie erschienen zu lassen!«
«Der Befehl — «