«Lecken Sie mich am Arsch mit Ihrem Befehl!«brüllte Dr. Portner außer sich.»Ich weigere mich, meinen Assistenten herzugeben! Gehen Sie durch die Keller… dort liegen einige Hunderte Verwundete, die täglich versorgt werden müssen! Sie vermodern hier, weil kein Fahrzeug vorhanden ist, sie nach Gumrak oder Pitomnik zu bringen! Aber Sie, meine Herren, haben einen Kübelwagen, Sie haben Sprit, Sie haben Öl, wenn es darum geht, einem idiotischen Paragraphen den Gipfel der Idiotie aufzusetzen!«
«Von jeher war Fahnenflucht — «
«Fahnenflucht! Weht Ihnen immer noch die Fahne voran, die mehr sein soll als der Tod?! Stecken Sie noch nicht genug mit der Nase in der Scheiße, um zu begreifen, daß wir alle, Sie und ich und die armen Kerle nebenan in den Kellern und die dreihunderttausend, die im Kessel verschimmeln, Opfer eines Verbrechens sind?!«
«Herr Stabsarzt — «, stotterte der Oberleutnant.
«Melden Sie das, mein Lieber! Das ist Defätismus. Jawohl! Wehrkraftzersetzung! Und Ihrem Kriegsgerichtsrat gönne ich, daß jemand ihm in die Fresse schießt und dann kein Arzt da ist, der ihn versorgt. Bedauere, Herr Kriegsgerichtsrat, aber der zuständige Arzt ist von Ihnen an die Wand gestellt worden! Nun verrecken Sie, Herr Kriegsgerichtsrat! Mit dem Gesetzbuch unterm Arm und dem Führerwort im leeren Gehirn. Und wenn Sie Schmerzen haben, singen Sie Ihre Paragraphen herunter, das beruhigt…«Dr. Portner drehte dem konsternierten Oberleutnant den Rücken zu.»Und nun gehen Sie… ich muß operieren, oder ich muß dem Divisionsarzt melden, daß zehn Verwundete nicht versorgt werden konnten, weil ein Kettenhund im OP-Bunker knurrte…«
Der Oberleutnant wurde rot und schluckte.»Sie werden es mir nicht verübeln, Herr Stabsarzt, wenn ich diese Beleidigung eines Offiziers an die Division weitergebe…«
«Bitte. Und einen schönen Gruß von mir an den General Gebhardt…«
«Der kritischen Lage wegen belassen wir den Verhafteten bei Ihnen. Wir stellen ihn unter Hausarrest…«»So etwas muß man sich ruhig anhören!«schrie Dr. Portner.»Ein Keller mit hundert Sterbenden… und dann Hausarrest.«
«Sie bürgen mir für den Herrn Assistenzarzt.«
«Raus!«Dr. Portner beugte sich über den Verwundeten auf dem Küchentisch, den Mann mit dem Granatsplitter in der Brust. Er war tot.»Sofort 'raus… ich scheue mich nicht, Ihnen die Leiche eines für Führer und Großdeutschland gefallenen Helden an den Kopf zu werfen…«
Dr. Körner trat langsam auf den empörten und vor Erregung sprachlosen Oberleutnant zu.»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich hierbleibe und mich der Anklage zur Verfügung stelle«, sagte er deutlich.
Der Oberleutnant grüßte.»Danke, Herr Kamerad. «Er machte eine Kehrtwendung und verließ schnell den OP-Keller. Seine beiden Unteroffiziere folgten ihm mit klirrenden, blankgeputzten Brustschildern. Dr. Portner lehnte sich an den Küchentisch und schleuderte von der Handfläche zwei Pervitintabletten in den Mund.
«Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank…«, sagte er, als er sie geschluckt hatte.»Wie konnten Sie so etwas machen?«
«Ich werde Ihnen das alles heute nacht erzählen, Herr Stabsarzt.«
«Und der Lungenschuß von Wallritz? Auch gedreht?«
«Ja.«
«Mensch… wissen Sie, daß es um Ihren Kopf geht?}«
«Ja. Aber mein Kopf ist mir nichts mehr wert…«
«Aber mir! Und denen da draußen, die Sie brauchen! Himmel, Arsch und Wolkenbruch!«Die Pervitintabletten wirkten. Das Herz schlug schneller, das Blei in den Gehirnwindungen schmolz.»Ich werde sofort den Divisionsarzt anrufen. Vielleicht sind Sie zu retten…«
Der Divisionsarzt war nicht da. Er befand sich in Pitomnik zur Lagebesprechung. General Gebhardt war ebenfalls auf Inspektion im Kessel, nur Oberst von der Haagen war erreichbar.
«Ich weiß, ich weiß«, sagte er abweisend.»Mir ist der junge Mann schon lange aufgefallen. Unangenehm aufgefallen. Zuletzt bei der Sektion der merkwürdigen Toten. Er hat da ein Wort geprägt, das allein schon wehrunwürdig ist.«
«Das Herz der 6. Armee…«
«Sie sagen es! Unerhört, nicht wahr?«Die Stimme von der
Haagens wurde schnarrend.»Ich bin der Ansicht, daß man den Mann bestrafen sollte. Exemplarisch! Es gibt gute und abschrek-kende Beispiele! Von den letzteren haben wir viel zu wenig im Kessel, um die Moral der Truppe zu stützen…«
Wortlos hängte Dr. Portner ein.
Aus, dachte er. Man wird ihn an die Wand stellen. Umgeben von 11 sowjetischen Armeen, in einem Kessel, in dem 300 000 deutsche Soldaten von ihrem Führer geopfert werden, wird man einen jungen Arzt standrechtlich erschießen. Und man wird dazu ein Recht haben und einen Paragraphen.
Wo aber ist der Paragraph aus einem Recht, der den an die Wand stellt, der mit großen Worten eine ganze Armee ermordet? 300 000 Menschen vor den Augen der fassungslosen Welt? Wo ist dieser Paragraph…«
In der Nacht zum 2. Januar holten sie Dr. Körner ab.
Nach Gumrak.
Zum Kriegsgericht.
Man hatte es eilig in Stalingrad, man ahnte, daß nur noch wenig Zeit blieb, nach Paragraphen zu leben.
In dieser Nacht zum. 2. Januar marschierte rings um den Kessel die Rote Armee auf. Über die Wolga zogen Panzer und schwere Geschütze, aus der Tiefe Asiens quollen sie heran, Division nach Division… zwei frische Armeen, die 62. Armee unter Generalleutnant Tschuikow und die 64. Armee unter Generalleutnant Shumilow… 23 Divisionen und 18 Brigaden, allein für die Eroberung von Stalingrad-Stadt.
Das große Sterben begann.
Zwischen zwei Offizieren mit umgeschnallter Pistole stolperte Dr. Körner über die Trümmer der Vorstadt bis zu dem wartenden Kübelwagen im Hof einer Werkstätte. Dr. Portner folgte ihnen mit Knösel und einem Unterarzt. Er wollte dabei sein, er wollte aussagen, er wollte wie ein Vater um seinen Sohn kämpfen.
Vor dem Kübelwagen blieben die stummen Offiziere stehen. Einer von ihnen nestelte an seiner Pistolentasche und hielt die Waffe auf der flachen Hand Dr. Körner entgegen.
«Bitte, Herr Kamerad…«, sagte er leise.
Dr. Körner schüttelte den Kopf.
«Es würde uns viel ersparen, Herr Assistenzarzt«, sagte det andere Offizier.
Dr. Körner schüttelte wieder stumm den Kopf. Ich will aussagen, dachte er. Ich will mich nicht fortschleichen aus der Verantwortung. Ich will ihnen alles ins Gesicht schreien, alles, was sie schon wissen, aber nicht wissen wollen.
«Also denn…«Die Offiziere traten zur Seite.»Steigen Sie ein.«
Wenig später hoppelten zwei Kübelwagen über die zerschossene Straße in die Nacht hinaus. Nach Gumrak.
Am Horizont, fast kreisrund, wetterleuchtete es, blitzte es in den Himmel, als zögen von Nord und Süd, von Ost und West sämtliche Gewitter aus der Unendlichkeit auf einen kleinen Punkt der Erde, auf Stalingrad.
Die beiden kleinen Wagen brummten durch die Nacht, zwei hüpfende, keuchende Käfer.
Kapitel 10
Wieder war alles aufs beste vorbereitet, als Dr. Körner in Gumrak eintraf, genau wie damals in Pitomnik, als er vor einem geschmückten Holztisch stand und ein Ja-Wort sagte und Oberst von der Haagen ihn mit Marianne traute. Mit Marianne, die zu dieser Stunde schon mit einem Lungenriß im Keller des Hauses Lortzing-straße 26 lag. Eine Trauung mit einer Toten.
Diesmal waren es drei Holztische, die nebeneinanderstanden und eine lange Tafel bildeten. An der Hinterwand hing, mit Heftzwecken festgemacht, die Reichskriegsflagge. Man hatte sich bemüht, Atmosphäre zu schaffen… Mit deutscher Gründlichkeit und deutschem Sinn für den äußeren Ausdruck der vorhandenen oder angenommenen inneren Werte war der Barackenraum zum Gerichtssaal hergerichtet worden. Sogar ein Führerbild hing hinter dem Stuhl des Anklägers… Unter den strengen Augen des größten Feldherrn aller Zeiten sollte die Verurteilung einer solch kleinen Wurst, wie es der Assistenzarzt Dr. Körner war, vor sich gehen. Außerdem wollte man dem Barackenzimmer die plumpe Nüchternheit nehmen; schließlich war es ein Offizier, der — das stand fest — zum Tode durch Erschießen verurteilt werden würde. Für einen Landser hätte man auf die Details verzichtet, bis auf das Führerbild. Es beruhigte auch den hartgesottensten Kriegsgerichtsrat, wenn er beim Urteilsspruch dem ins hehre Auge blickte, in dessen Namen er das aussprach, was man als Recht ansah.