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Dr. Körner hatte sich bei den letzten Worten erhoben. General Gebhardt beugte sich vor, auch Dr. Portner hielt den Atem an.

«Ich wußte nicht«, sagte Dr. Körner klar in die plötzliche Stille hinein,»daß es die Pflicht eines Arztes ist, Zerfetzte so weit zurechtzuflicken, daß sie wieder fähig werden, sich erneut zerfetzen zu lassen. Es ist meine Pflicht als Arzt, zu heilen… aber in diesem Falle heile ich, nicht damit dieser Mensch weiterleben kann, sondern damit man ihn wieder in die Hölle steckt! Ist das nicht eine Mitschuld am Mord?!«

Oberst von der Haagen sah hochrot zu General Gebhardt hinüber.»Das ist nicht zu überbieten«, stotterte er.»Meine Herren… das ist… das ist… dafür gibt es gar keine Worte… Unseren Heldenkampf als Mord zu bezeichnen… warum sitzen wir überhaupt noch herum?«Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war erschöpft und völlig aufgelöst vor Empörung. Der Verhandlung folgte er von diesem Augenblick an nur noch als Statist.

Das Verhör des Feldwebels der Feldgendarmerie Emil Rottmann war ebenfalls kurz. Mit flinken, lauernden Mausaugen stand er vor den Richtern, berichtete knapp über seine Beobachtungen, sagte sogar aus, daß er selbst den Gedanken gehabt habe, sich krank machen zu lassen, aber nicht, um abzuhauen, sondern um den Herrn Feldwebel und den Herrn Assistenzarzt damit einwandfrei überführen zu können… wenn sie getan hätten, was er wollte.

«Das ist lobenswert!«sagte Oberst von der Haagen und nickte.»Das jst nicht nur kriminalistisch, sondern auch deutsch gedacht! Das Übel bei den Hörnern fassen, unter selbstlosem Einsatz. Brav, der Mann!«

Dr. Körner sah Emil Rottmann nicht an, als dieser nach seiner Aussage wieder gehen durfte. Nur Dr. Portner sagte, als Rottmann an ihm vorbeiging:»Im Kessel von Stalingrad sind also doch noch nicht alle Schweine geschlachtet worden…«

Emil Rottmann wurde blaß und rannte aus dem Zimmer.

Die große Rede Dr. Körners fiel aus. Die Hintergründe, die Familiengeschichte der Wallritz', sein eigenes Schicksal… niemand interessierte sich dafür. Die flammende Anklage des Angeklagten kam gar nicht zum Lodern… der Kriegsgerichtsrat sah auf die Uhr, es wurde Zeit zum Urteil. Wenn ein Fall so klar lag, der Angeklagte sogar geständig war, war es sinnlos, psychologische

Studien zu betreiben. Außerdem kamen gegen Morgen die sowjetischen Störflieger, da war man im Bunker besser aufgehoben als in einer Baracke mit 10 cm dicken Holzwänden.

Auch eine Beratung im üblichen Sinne war nicht nötig. Man sah sich an und nickte sich zu. Alles klar. Mit regungslosem Gesicht hörte Dr. Körner stehend das Urteil.

«… ehrlos… nicht würdig der Uniform… Zum Tode durch Erschießen verurteilt… Das Urteil wird am selben Tag um sechs Uhr früh vollstreckt…«

Dr. Portner sah auf seine Armbanduhr.

«Das ist in eineinhalb Stunden«, sagte er heiser und sah General Gebhardt an.

Der General erhob sich und verließ stumm das Gerichtszimmer.

Die beiden Begleitoffiziere stellten sich neben Dr. Körner. Er war jetzt ein Delinquent. Mit hocherhobenem Kopf ging Oberst von der Haagen an Ihnen vorbei, die anderen Herren folgten. Stabsarzt Dr. Portner trat auf seinen Assistenzarzt zu.

«Leb wohl, mein Junge«, sagte er mit zitternder Stimme. Er gab ihm die Hand und hielt sie fest. Er spürte, wie auch Dr. Körner innerlich bebte.»Besser so, als verhungern oder in den Trümmern der Stadt verfaulen… Wir nehmen vielleicht alles zu wichtig in einer Welt, die kein Gewissen mehr kennt…«

Dr. Körner nickte. Plötzlich umarmte er Dr. Portner und drückte ihn an sich.

«Wenn Sie wüßten…«, sagte er mit schwankender Stimme,»wie gern ich lebte… wie gern…«

Zwanzig Minuten vor der Urteilsvollstreckung — man hatte aus Troßleuten bereits ein Peloton zusammengestellt und den Erschießungsplatz bestimmt, eine Mauer hinter dem Bahnhof von Gumrak — trat der Ankläger des Kriegsgerichts in das kleine Zimmer.

«Der Herr General hat das Urteil bestätigt, aber die Vollstrek-kung ausgesetzt. «Er sah auf seinen Bogen Papier und dann auf den erstaunten Körner.»Sie haben sich als Strafgefangener zu betrachten und bleiben unter Bewachung, bis es die Normalisierung der Lage möglich macht, das Urteil zu vollstrecken. Sie werden heute nacht noch nach Stalingrad zurückkehren und weiterhin Dienst als Truppenarzt tun.«

Der Major grüßte kurz und verließ ohne weiteren Kommentar das Zimmer. Er hinterließ drei ratlose Offiziere.

General Gebhardt hatte eine halbe Stunde vorher eine kurze und sachliche Aussprache mit dem Kriegsgerichtsrat und den Beisitzern, an der Spitze Oberst von der Haagen. Er empfing die Herren in seinem Befehlsstand, einem großen, mit Balken abgestützten Erdbunker am Tatarenwall. Auf einem Brettertisch lag eine Karte des Stalingradkessels. Rote und blaue Striche zeigten den Frontverlauf an.

«Die Verhandlung gegen diesen Dr. Körner war ja ein Meisterstück«, sagte General Gebhardt und stützte sich auf die Karte.»Vor allem Sie, Herr Oberst, haben sich mächtig ins Zeug gelegt…«

«Ich danke Herrn General«, sagte von der Haagen stolz.»Ich war außer Atem über so viel Hundsfötterei…«

«Wenn Sie sonst nichts atemlos werden läßt…«

«Wie meinen Herr General?«Oberst von der Haagen ahnte plötzlich Unangenehmes. Er nahm im voraus eine stramme Haltung ein.

«Der kleine Assistenzarzt hat gesagt, was jetzt… zigtausend unserer Landser denken. Oder wissen Sie das nicht, meine Herren? Er hat gesagt, was auch ich weiß… Wie ist das nun, Herr Oberst, bin ich ein Defätist?!«

«Herr General…«Von der Haagen erbleichte.

«Wir sind am Ende, meine Herren! Ich nehme an, daß Sie Kartenlesen gelernt haben. Bitte, werfen Sie einen Blick auf die Lage. Sie ist nicht beschissen, sie ist, offen gesagt, unser Arsch mit Grundeis! Wir kommen nicht mehr heraus, das dürfte wohl klar sein? Man hat uns verraten, man hat die ganze 6. Armee einfach verraten, mit Sprüchen hingehalten, belogen, und wir haben diese Lügen geglaubt, vor allem die Armeeführung mit Paulus an der Spitze. Nun dämmert es allen, daß der glorreiche Führer kaltblütig dreihunderttausend Mann opfert, um ein Prestige zu retten, um hinterwärtig neue Stellungen auszubauen, um einen sogenannten Heldenkampf zu haben, nach dem die Propaganda schreit. Wir sind bereits tot, meine Herren, ausgebucht bei der Heeresleitung! Herr Oberst — ist das Wehrkraftzersetzung, so etwas zu sagen?«

«Wenn Herr General das sagen, dann…«

«Reden Sie keine Scheiße, von der Haagen! Ich weiß nicht, woher Sie das Korsett nehmen, noch so aufrecht zu stehen…«

«Meine Liebe zum Vaterland…«

«Sie werden diese Liebe bei vierzig Grad Kälte in einem Granattrichter begraben! Wissen Sie, daß der Russe ungeheure Kräfte an allen Fronten massiert? Rund um den Kessel stehen frische Divisionen, neue Artillerieregimenter, Panzerbrigaden, Stalinorgeln, Werferbataillone, Schützenregimenter. Die Flugzeuge, die noch einfliegen, melden von großen Truppenbewegungen an allen Abschnitten. Es ist eine Frage von Tagen, und auch Sie liegen in einem Loch und schießen.«

«Aber die 4. Panzerarmee, die uns heraushauen soll. «Oberst von der Haagen schwitzte plötzlich.»Und das 48. Panzerkorps… die Armeeabteilung Hollidt… Man hat uns doch beim ArmeeOberkommando gesagt, daß —«

«Die 4. Panzerarmee ist auf dem Rückzug nach Süden, auf den Sal zu, die Armeeabteilung Hollidt ist auf der Flucht zum Donez, das 48. Panzerkorps ist bis Tazinskaja zurückgedrängt worden, mit anderen Worten: Bis zum nächsten deutschen Soldaten außerhalb des Kessels sind es über zweihundert Kilometer Luftlinie! Und dazwischen liegen elf sowjetische Armeen! Nun, von der Haagen, Sie Stratege… wie würden Sie dieses Problem lösen?«

Oberst von der Haagen schwieg konsterniert. Er starrte auf die Karte, er wußte nicht, warum man jetzt das alles sagte.